Doris Bezler: Dunker Zwilling (Buch)

Doris Bezler
Dunkler Zwilling
cbt, 2013, Paperback mit Klappenbroschur, 286 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-570-16269-9 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Nachdem die Eltern von Max Wirsing ihre Arbeitsstellen verloren haben, zieht die Familie nach Modertal ins Haus der Großmutter. In der neuen Schule wird der Junge sofort gemobbt, setzt sich jedoch zur Wehr und zeigt sich dabei von einer ganz anderen Seite. Unerwartet behandeln ihn die anderen von nun an mit einem gewissen Respekt – warum, das erfährt er erst später, da Max weder PC noch Internet zur Verfügung stehen.

Die Ähnlichkeit zwischen ihm und einem Schüler, der angeblich Selbstmord begangen hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Vorübergehend beginnt er, sich wie Maurice von Bentheim zu kleiden und zu stylen, sich wie er zu benehmen, wodurch er vor allem Annalena, die frühere Freundin seines Doppelgängers, und Chiara, dessen Stiefschwester, verwirrt. Max hat irgendwie das Gefühl, als wäre Maurice tatsächlich sein Bruder.

Aber das kann nicht sein, denn seine Oma versichert ihm, dass die Umstände von Max‘ Geburt zwar kompliziert gewesen seien, es aber keinen Zwillingsbruder gegeben hätte, der ausgesetzt wurde. Dennoch findet Max keine Ruhe, erst recht nicht als die Eltern zugeben, dass er adoptiert wurde. Plötzlich erhält er anonyme Briefe, in denen ihm Schlimmstes angedroht wird, falls er seine Nachforschungen nicht aufgibt.

Kurz darauf wird Max‘ Hund vergiftet, und das ist erst der Anfang. Da Chiara einen Verdacht hegt, rührt sie an brisanten Familiengeheimnissen, jedoch ohne Max, den sie schützen will, einzuweihen, nicht ahnend, dass sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt…

„Dunkler Zwilling“ fängt mit einem kleinen Reißer an, greift dann jedoch erst einmal das Thema Mobbing auf. Durch seinen Namen und seine anfängliche Schwärmerei für die hübsche Annalena liefert der schüchterne Max seinen neuen Klassenkameraden die Steilvorlage dafür. Wie so viele andere kann er sich den Eltern nicht anvertrauen und findet auch keine Hilfe bei den übrigen Schülern oder gar den Lehrern. Als es die Klasse übertreibt, rastet er aus und haut dem Rädelsführer auf die Nase. Danach ist alles ganz anders, denn er weckte die Erinnerung an Maurice, und mit dem wollte sich keiner anlegen.

Daraufhin identifiziert sich Max zunehmend mit dem Verstorbenen und stellt Nachforschungen an, weil einige Leute zu gern an einen Suizid glauben wollen und die Drohungen darauf hindeuten, dass er mit seinen Fragen jemanden in Bedrängnis bringt, der mehr über die Tragödie weiß. Auch seine Eltern und die Oma sind darum bemüht, die Wogen zu glätten, um das Familienidyll zu erhalten. Als er selber schon aufgeben will, nach einer Verbindung zwischen sich und Maurice zu suchen, und er auch wieder seine eigene Persönlichkeit hervorkehrt, stoßen er und Chiara auf neue Hinweise.

Vor allem Maurice‘ Stiefschwester schlüpft ab diesem Punkt in die Rolle der Schnüfflerin, denn Max ist zu sehr in Sorge um seine Angehörigen, da der Gegenspieler keinerlei Skrupel zu kennen scheint, und die Spuren führen ohnehin zu ihrer eigenen Familie. Da gibt es so Manches, was in Hinblick auf die jüngsten Geschehnisse in einem völlig neuen Licht erscheint. Chiara will sich Gewissheit verschaffen und Max nicht noch mehr in Gefahr bringen, während sie die Puzzleteile zusammensetzt und ein furchtbares Geheimnis aufdeckt.

Doch damit ist längst noch nicht alles aufgeklärt, und mit den letzten Enthüllungen wird wieder ins Schüler-Milieu, zu den Problemkindern und dem Beginn des Buchs zurückgekehrt. Viele (junge) Menschen sind psychisch krank, ohne dass sie selber oder jemand davon weiß, und wenn es bekannt ist, nehmen sie ihre Medikamente nicht und sind infolgedessen unberechenbar. Aufgrund eines Aggressionsschubs oder ähnlichem sind sie fähig, etwas zu tun, was sie anschließend bitter bereuen.

Die Charaktere sind realistisch aufgebaut mit nachvollziehbaren Kümmernissen und (Über-) Reaktionen. Man erfährt von ihnen nur so viel, wie es für die Handlung und die Identifikation notwendig ist. Im Mittelpunkt steht Max, schon wegen des Tagebuchs, in dem er die eskalierende Situation aus seiner Sichtweise festhält. Die Einträge heben sich durch eine andere Schrift vom übrigen Text ab. Das gilt auch für die Drohbriefe. Ein schönes Extra.

In der zweiten Buchhälfte gewinnt Chiara an Handlungsteilen und beweist sich als mutiges und kluges Mädchen, was vor allem Leserinnen gefallen wird. Sie ergreift die Initiative und dringt zu Menschen vor, die ihr Stück für Stück die Antworten liefern. Hier finden sich Anspielungen auf einen Klassiker der Literatur, der auf die richtige Spur führt, und einige Wendungen, die man nicht erwartet hätte.

Doris Bezler, Lehrerin und Stellvertretende Schulleiterin einer Gesamtschule, konzentriert sich auf ein dunkles Familiengeheimnis, für dessen Wahrung sogar Verbrechen begangen werden. In welchem Zusammenhang dieses mit dem Tod von Maurice steht, wird erst am Ende verraten, auch dass die Angelegenheit mit noch einer ganz anderen Problematik verknüpft ist. Zweifellos schöpfte die Autorin hier aus ihrem Alltag und versucht, die Leser ihres Buches nicht nur spannend zu unterhalten, sondern sie außerdem zu sensibilisieren für inzwischen anerkannte Krankheiten wie ADHS und Depressionen, Drogensucht, Mobbing und so weiter, damit Betroffene frühzeitig Hilfe erhalten. Von daher kann man „Dunkler Zwilling“ durchaus als Lektüre für den Deutschunterricht in der Mittelstufe empfehlen.