Charlaine Harris: Stummer Zorn (Buch)

Charlaine Harris
Stummer Zorn
(A Secret Rage)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Julia Becker
Titelillustration von Thomas Adorff
Feder & Schwert, 2009, Taschenbuch, 218 Seiten, 10,95 EUR, ISBN 978-3-86762-068-0

Von Carsten Kuhr

Nickie Callahan blickt mit 27 Jahren auf eine erfolgreiche Model-Karriere zurück. Ein paar Mal hat sie es bis auf das Titelbild der großen Modezeitschriften geschafft, ansonsten waren ihr mehr die Innenseiten der Magazine und die Kataloge der großen Versandhäuser vorbehalten. Verdient hat sie in den letzten Jahren mehr als genug, um für den Rest ihres Lebens gut und ohne Sorgen existieren zu können. Trotzdem ist es ein Schock, als ihre Agentin sie anruft, und ihr in ehrlichen Worten klar macht, dass ihre große Zeit vorbei ist. Was nur wird sie nun mit ihrem eigentlich sinnentleerten Leben anfangen?

Sie kehrt zurück in an den Ort, an dem sie aufgewachsen ist. Bei ihrer gerade das zweite Mal geschiedenen Freundin ist ein ganzes Stockwerk im geerbten Haus frei, an der örtlichen Universität beabsichtigt sie, ihren Abschluss in englischer Literatur nachzumachen, bevor sie als Autorin versuchen will, im umkämpften Markt Fuß zu fassen. Als Kind der Südstaaten findet sie sich schnell und unproblematisch wieder in alte Verhaltens- und Denkmuster ein. Dann erschüttert eine Verbrechensserie das malerische Städtchen. Ein Serienvergewaltiger geht um, etwas, das gerade im Süden, wo jeder jeden kennt, wo man streng christlich erzogen wird und lebt, viele des nachts ihre Türen nicht einmal abschließen, eigentlich undenkbar ist. Auch Nickie wird von dem unbekannten Täter überfallen und missbraucht. Der Täter, so wird deutlich kennt seine Opfer genau – er muss also aus dem inneren Kreis der nach außen so honorig auftretenden Freunde kommen. Zusammen mit einer Leidensgenossin macht sie sich selbst auf die Tätersuche ...

Bevor Charlaine Harris mit ihren beiden Urban-Fantasy-Serien um die gedankenlesende Kellnerin Sookie Stackhouse und die Totenflüsterin Harper Conelly die Bestsellerlisten erklomm, legte sie mit diesem Roman eine spannend aufbereitete Krimihandlung vor. Schon hier, in ihrem ersten Buch, nutzt sie das, was insbesondere die Sookie-Romane später so auszeichnet: sie portraitiert gekonnt und anschaulich das Leben und das Denken der weißen Mittelschicht in den Südstaaten der USA. Vorliegend bekommt der Leser einen fundierten Einblick in das, was das Leben in den Südstaaten auszeichnet. Konservative Wertvorstellungen, eine tiefe Gläubigkeit, eine nach wie vor existierende, wenn auch oftmals nur unterschwellige, Rassentrennung zwischen Weiß und Schwarz und viel äußerer Schein zeichnen die Menschen aus. Dabei sind sie freundlich, hilfsbereit und höflich aber eben auch stur, ja, teilweise verbockt in ihren überkommenen Vorstellungen, wie die Welt aufgeteilt sein sollte. Das entlarvt, allerdings mit Charme und durch eine durchaus wohlwollende Brille der gebürtigen Südstaatlerin gesehen, den unterschwelligen Rassismus ebenso wie die Rolle der Frau als Heimchen am Herd.

Daneben aber ist der Roman auch ein in sich stimmiges Werk über eine Vergewaltigung, und was eine solche Tat mit dem Opfer anstellt. Statt aber nur mit oberflächlichen Phrasen auf Mitleid zu dreschen, schildert Harris glaubwürdig und einfühlsam die Angst der Opfer vor der eigenen Hilflosigkeit, den Schwund an Vertrauen auch und gerade Bekannten und vorgeblichen Freunden gegenüber, den Verlust von Sicherheit und des Gefühls im Heim behütet zu sein. Dass die Opfer Zeit ihres Lebens unter der Tat zu leiden haben, dass die existenzielle Angst sie einschnürt, ihnen eine normale Beziehung erschwert wenn nicht unmöglich macht, fließt subtil aber deutlich auch in vorliegendes Werk mit ein. Deutlich wird die Falschheit und Verbohrtheit dann, als von ihr, dem Opfer, erwartet wird, aufgrund der Tat die Stadt zu verlassen und irgendwo anders, unbelastet von dem Verbrechen, neu anzufangen.

Nickie als Protagonistin ist geschickt gewählt. Nicht nur, dass sie als gebürtige Südstaatlerin in der uns unbekannten Welt verwurzelt ist, auch die Zeit an der Ostküste hat sie geprägt und für sonst vielleicht übersehene Einzelheiten empfänglich gemacht. Als starker, mutiger Charakter steht sie zu ihren Ängsten, handelt und empfängt so unser tiefes Mitgefühl.

Leser, die Charlaine Harris allein von ihren Urban-Fantasy-Romanen kennen und schätzen. werden mangels übernatürlicher Vorkommnisse von dem Frühroman enttäuscht sein. Wer aber einmal einen fundierten Einblick in die Welt der Südstaaten, ihrem Leben und Denken erhalten will, der ist hier richtig.