Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.): Zwielicht 20 (Buch)

Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.)
Zwielicht 20
Titelbild: Björn Ian Craig
2024, Paperback, 360 Seiten, 14,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Hurra - es gilt, eine Unternehmung hochleben zu lassen, die zu Beginn Stirnrunzeln hervorgerufen hat. Ein phantastisches Magazin mit dem Schwerpunkt auf der Weird Fiction und dazu noch in Buchform - geht das? Vor 15 Jahren haben Herausgeber, Autoren wie Leser sich diese Frage gestellt - nun, zwanzig Ausgaben später weiß man: oh ja, das geht sogar super!

Grund für den Erfolg ist sicherlich die handwerklich gebotene Qualität. Die Auswahl der Geschichten, das Lektorat, die Illustrationen - da greift Vieles ineinander, da weiß der Käufer schlicht, was er bekommt.

Naturgemäß steht und fällt ein solches Periodikum mit der Regelmäßigkeit, in und mit der es erscheint, und den offerierten Geschichten. Hier haben Achim Hildebrand und Michael Schmidt immer ein Näschen für Storys, die ein wenig anders sind, die eher beunruhigen als grell schockieren, die statt extremen Splatter die klassische Art der unheimlichen Erzählung hochhalten. Und sie bieten Abwechslung: mal klassisch, dann aktuell oder in einer zumeist dystopischen Zukunft angesiedelt - gebracht wird, was stilistisch wie inhaltlich gut ist!

Zur Feier des Jubiläums haben sich die Macher erstmals auch eine Hardcover-Ausgabe gegönnt (ja, ich weiß, einige der Sammlungen, sind auch in gebundener Form erschienen, für „Zwielicht“ selbst ist dies aber ein Novum).

Und ein umfangreiches Buch ist es dieses Mal geworden. Nicht weniger als 19 erzählerische Beiträge und zwei Artikel erwarten uns.


Um was geht es vorliegend?

Julia A. Jorges‘ „Zwischen zwölf und Mittag“ entführt uns in eine dystopische Zukunft. Wir lernen eine junge Frau kennen, zunächst ein kleines Rädchen im System, dann arbeitslos und damit fast rechtlos, die von ihrem verstorbenen Nachbarn eine Standuhr geschenkt bekommen hat, die ihr die Flucht vor dem Alltag eröffnet - bis eines Tages der von ihr denunzierte Mann wieder vor ihrer Tür steht.

Nele Sickels „Ein Mädchen in Gold mit Schuhen aus Glas“ stellt uns einen Nachtclub-Besitzer vor, der es gewohnt ist, sich Nacht für Nacht auf Jagd nach seinen zweibeinigen Opfern zu machen - bis er sich ein vermeintlich einfaches Aschenputtel-Opfer aussucht, das eine Überraschung für ihr bereithält.

Silke Brandts „Die Burg über den Rheinwüsten“ entführt uns einmal mehr in eine düstere Zukunft. Ein Experiment sollte die Rettung für die überlebenden Menschen bringen - die direkte Kommunikation mit Bauwerken. Was sich zu Beginn gut entwickelte, führte dann in der Folge zu einem Stillstand. Die Türme schwiegen - jetzt aber meldet sich einer der Türme; der, von dem man annahm, dass er verrückt wurde.

Ina Elbrachts „Mein wunderschöner Supermarkt“ spielt in einen spanischen Supermarkt, der ein wenig anders daherkommt, als man derartige Einkaufsmöglichkeiten kennt. Jahre später kommt das Paar, das im Untergeschoss des Centro den Supermarkt besuchte, wieder zurück auf die Insel - und sucht das verlorene Einkaufsparadies. Auch eine Künstlerin will den Markt nutzen, um ihre Schöpfungen an die oder den Interessierten zu bringen…

Nikolaus Schwarz‘ „Wer glaubt schon an Hexerei“ berichtet uns von einer Frau, die für erlittenes Unrecht durch einen Mann mit Hilfe einer Hexenbeschwörung Rache nehmen will - doch wird die Beschwörung gelingen?

Moritz Boltz* „Der Tschonk“ zeigt uns einen trauernden Vater, der das Liebste auf der Welt verloren hat - seine Tochter.

Maximilian Wusts „Salz, Glas und Silber“ entführt uns ins Grenzgebiet zwischen Serbien, Rumänien und Albanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Preuße, ein Hexenmeister, der sich auf die Jagd der Untoten spezialisiert hat, tappt in eine teuflische Falle…

Timothy Granvilles „Einige unlängst gestiftete Objekte“ berichtet uns von Funden in einem englischen Bauernhaus - Funde, die auf eine unheimliche Heimsuchung in alter Zeit verweisen.

Christian Blums „Der Arhang“ erzählt uns von einer Irakerin, die, als sie im Sterben liegt, eine alte Gottheit aus Uruk anbetet - mit Folgen für ihr Ableben.

Lena Marliers „Schnee“ stellt uns eine Frau vor, die schwer gesündigt hat. Ihr Augenlicht hat sie durch die Syphilis verloren, jetzt ist sie blind und allein im verschneiten Wald unterwegs -- bis sie auf ihre Opfer trifft… dann wäre sie gerne allein.

Ansgar Sadeghis „Geliebte Schwester“ schildert uns ein Familiendrama: die Mutter ging elend an Krebs ein, der Vater und die Tochter verrannten sich in Phantasien von einer Alien-Echsen-Invasion, der Sohn futterte sich zur Adiposität - bis die Gemengelage explodiert…

Karin Reddemanns „Roter Regen“ greift ein altes Motiv auf: Wenn es rotes Blut regnet, regen sich die Trolle und holen den menschlichen Nachwuchs - so die Mär… oder vielleicht doch die Wahrheit?

John Martin Leahys „In Amundsens Zelt“ berichtet vom Wettlauf 1911 zum Südpol - nur, dass vorliegend neben Amundsen und Scott, eine dritte Expedition auf dem Weg ist.

Algernon Blackwoods „Hass auf den ersten Blick“ entführt uns in den kanadischen Wald. Zwei Männer, die einander nicht kennen, verbindet ein Gefühl: gegenseitiger Hass. Als sie weitab jeglicher Zivilisation aufeinandertreffen….

Max P. Beckers „Die Hypnose“ erzählt von einem abgelegenen Dorf, das gerade eine neue Gemeindekirche baut. Just zu diesem Moment kommt ein Fahrender in das Städtchen - ein Mann, der Heilung von Krankheiten und weit mehr verspricht… und scheinbar auch hält. Bis er an den Priester gerät.

Arthur Machens „Die Geschichte des Sergt. Richard Haughton und was ihm an der Somme widerfuhr“ berichtet von den Wonnen des Ersten Weltkrieges. Es geht um einen britischen Soldaten, dessen inneres Licht selbst den düstersten Tag aufhellt und der, selbst verblutet, noch 150 gegnerischen Soldaten gefangennimmt.

Yvonne Tunnats „Der Hotelflur“ erzählt von einer jungen Frau, Karrieremensch, die in einem gar merkwürdigen Hotel übernachtet. Etagendusche und Klo, dazu die Warnung, sich nachts nur ja nicht zu lange im Flur aufzuhalten, sonst…

Sascha Dinses „Lethe“ entführt uns in die Weiten des Alls - hier soll die Versorgung der darbenden Menschheit mit Energie gesichert werden, doch dann kommt es zu unerklärlichen Vorkommnissen.

In Karin Reddemanns Artikel „Märtyrer, Schlampertoni und der Heilige Bimbam“ beschäftigt sie sich mit kirchlichen Märtyrern, Heiligen und Schutzpatronen.
In dem recht humorvollen und persönlich aufgezogenen Artikel beleuchtet die Verfasserin diejenigen, die man, laut Überlieferung und gedeckt durch die heilige katholische Kirche, um Hilfe anrufen soll.

Michael Schmidt steuert in „Die Kurzgeschichten beim Vincent Preis“ dann die entsprechende Auflistung bei.


Welche Beiträge haben es mir persönlich am Ehesten angetan?
Nele Sickels Aschenputtel-Version mit dem überraschenden Twist am Ende fand ich sehr gelungen.
Über Maximilian Wusts Preußen würde ich gerne weitere Erzählungen lesen. Der klassische Ansatz, verbunden mit der doch eher ungewöhnlichen Zombie-Variation statt den üblichen Vampiren, hat dem Plot zusätzliche Würze verliehen.
John Martin Leahy und Algernon Blackwood konnten mich - ebenfalls eher in einer klassischen Kulisse angesiedelt - mit ihren Geschichten einfangen. Hier erwartet uns viel atmosphärisches Flair verbunden mit einer überraschenden Auflösung am Schluss des jeweiligen Beitrags.
Yvonne Tunnat schließlich präsentiert uns einen herrlich unaufgeregten Plot voller rätselhaften Vorkommnissen, der auch stimmlich sehr gelungen ist.

Insgesamt gesehen ein würdiger Jubiläumsband, der für jeden Geschmack etwas bereithält. Die Erzählungen haben das gewohnt ansprechende stilistische Niveau, inhaltlich wird eine breite Palette von Topics angeboten, so dass die Leserin respektive der Leser hier immer wieder von Neuem auf interessante Storys trifft.