Aiki Mira: Neongrau - Game over im Neurosubstrat (Buch)

Aiki Mira
Neongrau - Game over im Neurosubstrat
Polarise, 2022, Paperback, 520 Seiten, 16,95 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Willkommen im Hamburg des Jahres 2112. Den blauen Himmel sieht man nie - schließlich wird regelmäßig Schwefeldioxid in die Atmosphäre injiziert, um die Sonnenstrahlen zu reflektieren und damit den Treibhauseffekt zu bremsen… aufhalten wird die Menschheit diesen nicht mehr können. Jeden Tag werden ganze Städte aufgegeben, die Bevölkerung in nördlichere oder südlichere Gefilde umgesiedelt. Kohlendioxid wird aus der Luft entzogen und in stillgelegte Ölquellen gepumpt.

Auch sonst hat sich nicht wirklich viel getan, in den letzten 90 Jahren. Terror-Anschläge suchen die Städte heim, Flüchtlingsbewegungen, wo man hinschaut, das ehemalige Elbufer liegt zumeist unter Wasser, Menschen werden wegen ihre Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer Anschauungen diffamiert.

Die Menschen leben vom Grundeinkommen - wer seinen Kindern aber ein wenig Bildung, ein Mehr an medizinischer Versorgung angedeihen lassen will, der braucht Geld. Und Jobs sind rar.

Das muss auch Go, die/der als Stuntboi arbeitet und sich auf seinem Freestyle-Board gerade so über Wasser hält, feststellen. Als ihr/sein Gesicht bei einem Stunt Bekanntschaft mit dem Asphalt macht, ist sie/er raus. Der Medimat offenbart ihr/ihm und seiner Vertrauten ELLL, dass sie/er dringend eine teure medizinische Behandlung benötigt. Insoweit ist die Kündigung noch ungeschickter, als so schon.

Dass Gos Online-Freund Ctrl ein genialer Hacker ist, kommt gelegen. Er verschafft Go einen Job als Leibwächter im Stadion. Endlich kommt sie/er den Rahmani-Geschwistern, den besten Gamers Deutschlands, näher - und sie/er lernt eine Welt kennen, die illegal und abseits der großen Arenen für Unterhaltung sorgt. Das bevorstehende Turnier der Legenden sorgt für noch mehr Dramatik, nicht nur in der Virtual Reality…


Was ist das für ein Roman, den uns Laßwitz-Preisträgerin Aika Mira vorstellt? Ein dickes Buch mit über 80 kurzen Kapiteln wartet auf den Leser. Ein Roman, der aktuelle Tendenzen in die Zukunft extrapoliert, der ein unheimliches Tempo vorlegt, dessen Handlung dabei erstaunlicherweise eigentlich kaum wirklich wichtig ist.

Ich war erschlagen von dem Bild, das uns die Verfasserin hier in stroboskopartigen Kapiteln anbietet. Hier zeigt sie uns blitzlichtartig und grell eine Zukunft, die erschreckend real wirkt. Eine Welt, in der die Existenz - Leben kann man das größtenteils kaum nennen - nicht mehr wirklich lebenswert ist, in der sich die Menschen immer mehr zurückziehen, vereinsamen, sich in der virtuellen Welt volldröhnen, um sich vom tagtäglichen Elend abzulenken. Dass auch die VR, die Games, von den Konzernen gesteuert werden, mögen sie ahnen - letztlich ist es ihnen aber gleich. Es geht schlicht darum, der tagtäglichen Sinnlosigkeit des Daseins zu entfliehen, einmal wieder Gefühle zu erfahren, zu merken, dass man überhaupt noch lebt.

Das ist harter Tobak, das wirkt brutal, grell, plakativ und doch auch erschreckend real. Zudem liest es sich nicht ganz einfach.

Mira sucht und findet ihren Jargon - glücklicherweise für mich, hat sie ein Glossar der Begriffe beigefügt -, verstört mit ihrer Zukunftsvision, bietet aber immer wieder auch zwischenmenschliche Einblicke, die berühren.

Dabei muss sich der Leser nicht nur in die Handlung einlesen, er muss sich auch mit den rasant wechselnden Kapiteln arrangieren, die Darstellung der Gefühlswelt der Figuren mit der Bühne in Einklang bringen. Distanz ist hier kaum möglich, auch nicht gewollt.

Sprachlich überrollt uns der Roman förmlich, erschlägt uns mit einer selten gelesenen inneren Wucht. Die Beschreibungen gehen in die Tiefe der Figuren, offenbaren uns deren Gefühle ohne hier etwas zurückzuhalten. Die Bilder, die mir bei der Lektüre vor Augen kamen waren derart intensiv, dass sie mich bis in den Traum hinein verfolgten.

Die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen zusehends, Vieles geht ineinander über. Dabei lässt die Autorin dem Leser die Freiheit, über das Geschehen zu urteilen. Sie präsentiert uns den Plot, ihre Figuren - wie man sich zu diesen stellt, wie man deren Handlungen werten mag, das obliegt allein dem Rezipienten.