Frank Eschenbach & Jörg Kleudgen: Jenseits von Gut und Böse (Buch)

Frank Eschenbach & Jörg Kleudgen
Jenseits von Gut und Böse
Titelbild und Innenillustrationen: Jörg Kleudgen
Goblin Press, 2012, Taschenbuch, 120 Seiten, 12,00 EUR

Rezension von Elmar Huber

„Ich gebe weiterhin zu, dass ich bis vor ein paar Tagen nicht gewusst habe, was wirkliche Angst bedeutet. Damit meine ich nicht die irrationale Furcht, von der ein Kind ergriffen wird, wenn es in den dunklen Keller hinabsteigt. Was ich meine, ist die Angst, die einen anspringt wie ein hungriges Raubtier und einem ihre eisigen Klauen ins Fleisch schlägt. Den Schrecken, der einem in die Glieder fährt und uns in Bewegungslosigkeit erstarren lässt. Genau dieses Gefühl hat sich nun meiner bemächtigt.“

Nach seiner Scheidung zieht sich der Anwalt Stanley Carpenter zunächst von seinen Geschäften zurück, um Urlaub zu machen. Im Örtchen Salisbury in Neuengland lernt er die patente Lisa Quinton kennen, die dort gemeinsam mit ihrem Bruder Henry ein Haus bewohnt. Als Stanley Nachricht vom bevorstehenden Tod seiner Mutter erhält, begleitet sie ihn zurück nach Apponaug und erweist sich ihm in dieser Zeit als unschätzbare Hilfe.

Zwar bezeichnet sich Stanley selbst als von Geburt an unfähig, Gefühle zu empfingen, doch entwickelt er eine unleugbare Zuneigung zu Lisa, die sich noch vertieft, als sich ihr Bruder Henry auf einer Forschungsreise befindet. Nach seiner Rückkehr bringt Henry der Verbindung zunächst Widerstand entgegen, sieht seinen Fehler jedoch nach einigen offenen Worten ein und bittet Stanley sogar, ihn und Lisa auf seine nächste Expedition nach Australien zu begleiten, ein Vorhaben, das Jahre zuvor bereits einmal abgebrochen werden musste. Doch Henrys Einladung ist keineswegs selbstlos, vermutet er doch, dass Stanleys Anwesenheit in Australien ihm hilft, endlich ein lang ersehntes Ziel zu erreichen.

„Auf ihrem Schreibtisch herrschte eine Art kreatives Chaos. Auf den ersten Blick hatten die Dinge nichts miteinander zu tun. Zeitungsausschnitte, Landkartenvergrößerungen und größtenteils undeutliche verwaschene Photographien lagen wahllos verstreut herum. [...] Dazwischen - schwarz wie aus einem Stück Kohle herausgesägt - befand sich ein Buch, das mein Interesse in besonderem Maße erregte. [...] Ich schlug es auf und überflog einige Seiten, die allesamt gleichermaßen wirren Inhalts waren. Okkultes Geschwätz voller dunkler Andeutungen über eine wurmartige Rasse Außerirdischer, die gewaltige Höhlensysteme bewohnten und von frühen Menschen oder Halbaffen als Gottheiten verehrt wurden. Es war vollkommen absurd und weltfremd.“


Wie so oft im phantastischen Milieu beginnt der Roman, als sich das Leben des (wieder) ungebundenen Stanley Carpenter an einem Punkt der Veränderung befindet und er auf sich allein gestellt ist. Eine neue Lebenssituation und ein fremdes Umfeld sind gern verwendete Instrumente, um - losgelöst von einem bekannten, von einem schützenden Umfeld - das Unerklärliche in die Welt des Protagonisten hereinbrechen zu lassen.

Zunächst sind es die fremdartigen Gefühle, die Carpenter für Lisa Quinton entwickelt. Obwohl er selbst nicht von Liebe sprechen will, kann er nicht leugnen, dass er sich zu seiner neuen Bekanntschaft hingezogen fühlt und ihm ihre Nähe guttut. Für den Leser bleiben jedoch leise Zweifel an Stanleys Aufrichtigkeit, denn viele Kleinigkeiten verleihen ihm den Nimbus des Unerklärlich-Rätselhaften. So hatte Stanley seinen biologischen Vater nie kennengelernt und konnte doch im Alter von zehn Jahren ein Bild von ihm anfertigen.

Die zweite Hälfte des Romans beschreibt schließlich die Expedition selbst, deren Auftraggeber nicht etwa, wie angenommen, die Miskatonic-Universität ist, sondern eine geheimnisvolle Organisation namens ‚Ktulu-Gesellschaft‘, die in wissenschaftlichen Kreisen einen zweifelhaften Leumund genießt, soweit überhaupt etwas über sie bekannt ist. Auch durch den Inhalt der Briefe, die Lisa von ihrem Bruder erhält, rücken Henrys Expeditionen deutlich in Richtung des Makabren.

Doch trotz der eindeutigen Anspielungen ruht sich der Roman nicht darauf aus, H. P. Lovecrafts Geschöpfe auf die Menschheit loszulassen und unter Tentakeln zu ersticken. Vielmehr liegt der Fokus auf der Person Stanley Carpenter, seiner wachsenden Beziehung zu Lisa Quinton und der Tragik, dass ihn am Ende doch seine beinahe vergessene Andersartigkeit einholt. Dass die Ereignisse rückblickend erzählt werden, von einem Zeitpunkt an, da Lisa Quinton bereits dem Wahnsinn verfallen ist, verleiht der Erzählung zusätzliche Dramatik. Lovecrafts Nyarlathotep wird nur am Rand bemüht.

Ergänzt wird der Roman von Frank Eschenbachs famos geschriebenen Fragment „Mr. Hingle“ und einem Nachwort von Herausgeber, Sammler und Autor Bernd Rothe, der mit Jörg Kleudgen gemeinsam „Das Siegel des Mandschu“ geschrieben hat. Selbst auf der Jagd nach alten Goblin-Press-Heften kam er mit Jörg Kleudgen in Kontakt, der von der Resonanz zu seinen ‚alten‘ Veröffentlichungen, unter anderem „Jenseits von Gut und Böse“, schlicht so überwältigt war, dass er sich die Novelle noch einmal vorgenommen und stark überarbeitet hat, da ihm bei der erneuten Lektüre auffiel, „wie sehr die Geschichte hinter ihren Möglichkeiten zurückblieb.“ (aus dem Nachwort von Bernd Rothe). Entgegen der Angaben auf der Goblin-Press-Webseite umfasst der Roman sogar 120 Seiten

Die Goblin Press macht mit „Jenseits von Gut und Böse“ wieder einmal vor, wie man sich von Lovecraft etwas leihen und dennoch eine eigenständige Geschichte erzählen kann.