Stephen King: Blutige Nachrichten (Buch)

Stephen King
Blutige Nachrichten
(If It Bleeds, 2020)
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
Heyne, 2020, Hardcover, 560 Seiten, 24,00 EUR, ISBN 978-3-453-27307-8 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Stephen King hat spätestens mit „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ (im Original „Different Seasons“) bewiesen, dass er ein genialer Autor von Novellen ist. Erzählungen zwischen 50 und ca. 150 Seiten liegen ihm, und spätestens die Verfilmung von drei der vier damaligen Novellen (wobei „The Body“ in Deutschland zu „Stand by me - Das Geheimnis eines Sommers“ und „The Shawshank Redemption“ zu „Die Verurteilten“ wurde und damit zu definitiv zwei der besten King-Verfilmungen aller Zeiten; auch „Apt Pupil“ als „Der Musterschüler“ ist gar nicht schlecht!) zeigten, welch wunderbare Geschichten der Autor hier in der kürzeren Form zu schreiben in der Lage ist.

Der vorliegende Band enthält nun drei Novellen (eine von knapp 80 Seiten, zwei mit etwa 110 Seiten) und einen Roman von 240 Seiten (früher hätte diese Länge als vollständiger Roman gegolten, aber im Zeitalter aufgeblähter Fantasyunendlichserien und dicker Ziegelsteinbücher gilt diese Seitenzahl bei Heyne nur noch als „Kurzroman“).


Die Sammlung beginnt mit der sicheren Nummer „Mr. Harrigans Telefon“, einer typischen Coming-of-Age-Geschichte, wie sie King in „The Body“ und auch im Roman „Hearts in Atlantis“ (dt. „Atlantis“) schon so ähnlich erzählt hat.
Craig ist ein sehr gelehriger und anständiger Junge, der in der Kirche früh öffentlich aus der Bibel vorlesen darf, weil er dies so schön kann. Dabei wird der reiche John Harrigan auf ihn aufmerksam, der sich in dem kleinen Ort, in dem Craig mit seinem Vater wohnt (Craigs Mutter ist verstorben), zur Ruhe gesetzt hat.
Harrigan bietet dem Jungen für das Vorlesen bei sich zu Hause und einigen anderen kleinen Diensten einen bescheidenen Lohn, und der Junge mag seinen neuen „Minijob“ und bald auch den alten Mann.
Aus Dankbarkeit macht er Harrigan sogar mit neuerer Digitaltechnik (Handy, denn die Geschichte spielt teilweise zur Zeit der Blackberrys und ersten iPhones) vertraut, wodurch auch der alte Mann profitiert.
Leider stirbt Harrigan eines Tages an Altersschwäche und Craig verabschiedet den Mann bei dessen Beerdigung würdig. Aus diesem Abschied ergibt sich dann bald eine etwas gruselige, aber auch sehr interessante Situation...

Wie gesagt ist diese flüssig erzählte Novelle eine sichere Bank, hier gibt es nichts zu meckern oder kritisieren, wer King liebt, kann hier gar nichts einwenden gegen eine weitere tolle und sehr anrührende Jugendgeschichte.


In der nächsten Novelle (der kürzesten) erzählt der Autor anfangs scheinbar von einer Welt, die ihren „Doomsday“ erreicht hat. Die Zivilisation scheint unterzugehen, und mit ihr die ganze Menschheit. Im zweiten Teil tauchen dann aber immer mehr Ungereimtheiten auf, die Erzählung nimmt eine ganz andere Wendung. Erst im dritten Teil begreift der Leser langsam, was wirklich vor sich geht und ist, wenn er denn zu Mitgefühl in der Lage ist (und den Plot versteht), heftig emotional bewegt und betroffen.

„Chucks Leben“ ist vielleicht der Höhepunkt der vier hier versammelten Geschichten. Genial konstruiert, anfangs verwirrend, dann immer verständlicher, erzählt der Autor äußerst bewegend vom Tod eines Menschen und dem Verlust an Wissen, den dieses Ereignis darstellt.


Danach erfolgt ein Roman, der im gleichen Universum spielt wie die drei Bände der Bill-Hodges-Serie („Mr. Mercedes“, dt. unter gleichem Titel, „Finders Keepers“ (dt. „Finderlohn”) und “End of Watch” (dt. „Mind Contro”l) und Kings Roman “The Outsider” (dt. “Der Outsider“).
In dieser Titelgeschichte erzählt der Autor davon, wie es Holly Gibney gelingt, einen weiteren Outsider (ein Wesen, welches sich von menschlichem Leid ernährt und inzwischen dazu übergegangen ist, dieses selbst zu verursachen, um sich zu sättigen) aufzuspüren und diesen zu bekämpfen.

Leider vergaloppiert sich der Autor hier total bezüglich des Spannungsbogens. Durch die Schwarzweiß-Konstruktion, die nur Gut und Böse zulässt, sind die Fronten schnell klar, das abschließende Duell vorherbestimmt und müsste nur durchgeführt werden, wenn King nicht noch mehr als 100 Seiten schreiben würde, die sich als zäher Kaugummi dahin ziehen. Denn das Ende ist erwartbar, der schlussendliche ultimative Kampf unvermeidbar, doch der Leser muss sich bis dahin durch völlig unnötige Texte quälen, die nur den sehnlich erwarteten Endkampf immer mehr und völlig unnötig hinauszögern. Sicherlich werden die Leser der Bücher sich freuen über ein Wiedersehen (Wiederlesen?) mit Holly Gibney. Aber dies reicht leider nicht! Der Rest ist sehnsüchtiges Warten auf den finalen Fight. Alles andere ist Qual (oder man überspringt einfach den argen Hänger!).


Als Letztes folgt noch die Novelle „Ratte“, eine ebenfalls atmosphärisch dichte Geschichte (wie die anderen beiden Novellen in diesem Buch), in welcher ein Universitätsprofessor, der gelegentlich Kurzgeschichten schreibt (aber nur sehr selten), plötzlich die Idee zu einem Roman hat. Vor Jahren endete ein solches Unternehmen wie das Schreiben eines Romans für den Mann schon einmal im Desaster und fast in der Katastrophe für ihn und seine Familie, weshalb diese Angst hat, als der Autor sich in eine einsame Hütte am Arsch der USA zurückzieht.
Und bald scheint auch hier die Situation zu eskalieren. Wird er noch rechtzeitig den Dreh für die Erzählung finden, zumal eine heftige Grippe ihn im Griff hat…?

Auch wenn diese Geschichte wieder einen recht spezifischen „Autorenblickwinkel“ entwickelt (ähnlich wie „Misery“ oder „Stark - The Dark Half“, aber leider deutlich einseitiger), dürfte sie doch für die meisten Leser recht interessant und vor allem spannungstechnisch gelungen daherkommen. Besonders die Einsamkeit der Hütte und die Bedrohung durch einen aufziehenden Eissturm und die unangenehm heftige Grippe in Kombination mit vermeintlichen Halluzinationen des Protagonisten vermittelt King wieder absolut meisterhaft (ansatzweise lässt „Shining“ grüßen).


Insgesamt ist das Buch seinen Anschaffungspreis wert, auch wenn der hier erhaltene „Kurzroman“ deutlich schwächelt und Erwartungen enttäuschen dürfte.
Andererseits ist er aber auch nicht so schlecht, dass er den guten Eindruck der drei Novellen schmälert, von denen vor allem „Chucks Leben“ großen Eindruck macht, zumal nach scheinbar schwachem, wirrem Beginn.

Zwar kein überragendes Buch von King aber allemal ein gutes!