Paul Melko: Die Mauern des Universums (Buch)

Paul Melko
Die Mauern des Universums
(The Walls of the Universe, 2009)
Deutsche Übersetzung von Ulrich Thiele
Titelbild: Nele Schütz Design
Heyne, 2010, Taschenbuch, 510 Seiten, 8,95 EUR, ISBN 978-3-453-52691-4

Gunther Barnewald

Johnny Rayburn ist ein ganz normaler US-amerikanischer Teenager, der sich für Physik interessiert und dies auch gerne Studieren möchte, wenn er die High School beendet haben wird, was kurz bevorsteht. Er wächst bei seinen Eltern auf deren Farm in einer kleinen Stadt nahe Toledo auf, als er eines Tages auf seinen „Doppelgänger“ trifft, der ihm eine phantastische Geschichte erzählt.

Dieser „Zwilling“, der sich John Prime nennt, stammt angeblich aus einem Alternativuniversum, einer Parallelwelt, und kann vermittels eines mechanischen Geräts durch die verschiedenen Universen reisen. Natürlich ist Johnny Rayburns Neugier geweckt, und er lässt sich, trotz Bedenken, von John Prime zu einer Probereise überreden, während dieser den „einheimischen“ Johnny bei dessen Eltern vertreten will. Als Johnny jedoch die Alternativwelt erreicht, muss er feststellen, dass der wunderbare Apparat defekt zu sein scheint, man mit ihm nur immer ein Universum nach dem anderen in eine Richtung bereisen kann, er somit keine Chance hat, in seine angestammte Welt zurückzukehren, sondern immer nur „aufwärts“ (nach einer vom Gerät vorgegeben Nummer) reisen kann. In Johnnys Welt gelingt es John Prime, das Vertrauen seiner Umwelt zu gewinnen, zum neuen Johnny Rayburn zu werden und sich scheinbar nahtlos in eine Welt einzufügen, die seiner eigenen ähnlich ist, wurde er doch vor kurzem ebenfalls von einem anderen John Rayburn hereingelegt. Nur seine Idee, den von Rubik erfundenen Zauberwürfel in diese Welt einzuführen, die diesen noch nicht zu kennen scheint, geht gründlich schief und als John Prime auch noch einen tödlichen Unfall verursacht, merkt er, dass er wohl doch nicht das goldene Los gezogen hat...

Währenddessen gelingt es auch Johnny Raiburn, nach einer kurzen Odyssee durch verschiedene Alternativwelten, sich zu etablieren in einem Universum, in dem seine Eltern kinderlos geblieben sind und er sich als Gehilfe auf der Farm bei ihnen verdingen kann, so dass sie ihn bald wie einen Sohn betrachten. Er beginnt, das defekte Gerät zu erforschen, um es dereinst reparieren und nachbauen zu können. Doch dafür benötigt er nicht nur ein Physikstudium, sondern auch viel Geld, weshalb er sich mit Kommilitonen zusammenschließt, um einen Flipperautomaten zu erfinden, den es in dieser Welt nicht zu geben scheint. Doch durch seine Erfindung werden andere Menschen auf ihn aufmerksam und bald zeigt sich, dass auch in dieser Welt Dimensionsreisende leben, die aber hierher verbannt worden waren und sich nichts sehnlicher wünschen, als nach Hause zurückzukehren, die aber keine Geräte haben, um dies zu bewerkstelligen. Diese würden morden für ein solches Gerät – und sie setzen sich aus Johnnys Spur...

Paul Melkos Roman ist, trotz seines etwas pompösen Titels, ein grandioser Abenteuer-Roman mit Tiefgang. Stilistisch brillant gelingt es dem Autor, den Leser mit einer phantasiereichen und spannenden Handlung zu fesseln, ohne sich in den Widersprüchen verschiedener Welten zu verheddern. Dass der Autor die Schilderung allzu vieler Alternativwelten vermeidet und sich stattdessen auf die Schicksale seiner beiden Helden konzentriert, spricht eindeutig für Melko. Er nimmt sich viel Zeit für die Entwicklung der Protagonisten, ohne dabei die Handlung zu vernachlässigen. Zudem hat „Die Mauern des Universums“ einen hervorragend konstruierten Spannungsbogen, so dass die Geschichte den Leser gegen Ende völlig in ihren Bann zieht, der Rezipient die letzten ca. 80-100 Seiten geradezu in sich hineinsaugen muss, so packend gerät die Handlung.

Paul Melko knüpft hiermit an eine altehrwürdige Tradition des Genres SF an, welches mit dem schwierigen Thema Alternativwelten auch immer eine Herausforderung für Autor und Leser verband, auf anspruchsvolle Weise zu unterhalten und nachdenklich zu stimmen und dabei die Prämissen der Konstruktion nicht aus den Augen zu verlieren. So erinnert der vorliegende Roman in Stil und Konstruktion sehr an Ken Grimwoods Meisterwerk „Das zweite Spiel“ von 1986, wobei dieser Roman sich (ähnlich und doch ganz anders als der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“) allerdings mit dem Thema Zeitschleifen auseinandersetzte und den Protagonisten immer wieder ganze Lebensabschnitte wiederholen ließ (eine Idee, die wohl auf Richard Lupoffs Kurzgeschichte „12.01“ zurückgeht). Inhaltlich erinnert „Die Mauern des Universums „dagegen eindeutig an H. Beam Pipers wunderbare „Parazeit“-Serie, die dieser von 1948 bis zu seinem Selbstmord 1964 verfasst hatte, und zu der die Novellen „Time Crime“, „Last Enemy“, „Temple Trouble“, „Police Operation“, „Gunpowder God“ und „Down Styphon!“ gehören (letztere beide zum Roman „Lord Calwan of Otherwhen“ zusammengefasst) und in Deutschland alle in drei Taschenbüchern der Reihe „Utopia Classics“ in den 80er Jahren (unter den Nummern 29, 66 und 68 erschienen), wobei die Idee von Parallelwelten wohl auf den SF-Autor Murray Leinster zurückgeht, der bereits 1934 die erste (wenn auch noch sehr krude und unausgegorene) Story zu diesem Thema veröffentlichte.

Paul Melkos Verdienst ist es jedoch, seine Geschichte so frisch und überzeugend zu erzählen, als habe er sie gerade selbst erfunden und sich dabei trotzdem schon so viele Gedanken zu dem Thema gemacht zu haben, dass ein rundes und vor allem glaubhaftes Bild entsteht. Da der Autor sich zudem auf reine „Alternativwelten“ konzentriert, er also keine „Parallelwelten“ entwirft, in denen Magie funktioniert oder sonstige, den naturwissenschaftlichen Gegebenheiten widersprechende Dinge vorkommen, liegt mit dem vorliegenden Roman ein SF-Roman reinsten Wassers vor, wie man ihn in Deutschland schon lange nicht mehr (und im Heyne Verlag wohl noch länger nicht mehr) lesen durfte.

Eine Geschichte, die nicht an technischen Details erstickt, wo sich nicht irgendwelche Naturwissenschaftlerautoren möglichst abgedrehte Zukunftswelten ausgedacht haben, deren Protagonistencharaktere so flach sind wie Briefmarken und die den Leser mit ihrem Fachjargon langweilen. Sondern eine ebenso spannende wie menschliche Geschichte, die den Leser auch einen gewissen intellektuellen Kitzel versetzt und trotzdem prima unterhält. Auch wenn das Ende des Buchs nach vielen Fortsetzungen riecht, so ist „Die Mauern des Universums“ vielleicht der beste SF-Roman, der in Deutschland erscheint seit Sergej Lukianenkos Meisterwerk „Spektrum“.