Jackie Kessler & Caitlin Kittredge: Schatten und Licht – Das Ikarus-Projekt 1 (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Freitag, 13. August 2010 21:59
Jackie Kessler & Caitlin Kittredge
Schatten und Licht
Das Ikarus-Projekt 1
(Black and White, 2009)
Aus dem Amerikanischen von Katrin Harlaß
Titelgestaltung von Max Meinzold/HildenDesign, inspiriert von www.plangdon2.deviantart.com/„Lash“
Autorenfotos von Cherie Priest und privat
Lyx, 2010, Taschenbuch, 542 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 978-3-8025-8354-4
Irene Salzmann
Die Firma Ikarus Biological bietet Paaren mit Kinderwunsch an, deren Fruchtbarkeit zu stimulieren und so eine erfolgreiche natürliche Empfängnis zu gewährleisten. Was wirklich bei diesen Behandlungen passiert, wissen nur die wenigsten – aber die Resultate zeigen sich schon bald. Immer mehr Kinder werden mit besonderen Fähigkeiten geboren und stellen eine neue Spezies: die Außermenschlichen.
An der Akademie lernen diese Jugendlichen, ihre Kräfte zu beherrschen und zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Sie alle sind bestrebt, ihre Pflicht zu erfüllen und Helden zu sein, die man bewundert und liebt. Tatsächlich werden auch die meisten zu Idolen erhoben, die in TV-Shows auftreten und deren Bilder auf Plakaten und Artikeln des täglichen Lebens zu sehen sind. Aber wo es Superhelden gibt, sind die Superschurken nicht weit: Abtrünnige, die sich von ihrer Macht korrumpieren ließen oder verrückt wurden oder ... Und auch innerhalb der Bevölkerung regt sich Widerstand, da einige Gruppierungen die Angst vor einer totalen Übernahme aller Staatsgewalten durch die Außermenschlichen schüren.
In dieser Welt wachsen Jet und Iridium auf, Schatten und Licht, Heldin und Schurkin. Auf der Akademie waren sie Freundinnen – und Marionetten, ohne es zu wissen. Die Manipulationen ihrer Mentoren trieben einen Keil zwischen die jungen Frauen, die einander nun mit aller Härte bekämpfen. Das Verschwinden einer Star-Reporterin, die das Geheimnis um die Entstehung der Außermenschlichen und ihre Ziele aufzudecken versuchte, und Iridiums Angriff auf Ops, der die Helden ihrer Führung berauben soll, lassen die Situation eskalieren. Zudem befinden sich unter jenen, denen Jet und Iridium vertrauten, Verräter ...
Wer Superhelden-Comics liest, kennt dieses Szenario – und die Autorinnen verhehlen nicht, dass sie sich so manche Anleihe aus den geliebten Heften holten und sich „Das Ikarus-Projekt“ als eine Hommage versteht. Jet und Iridium sind die beiden Seiten einer Medaille, ‚gut‘ und ‚böse‘, und am Anfang des Romans scheint die Rollenverteilung auch ganz klar zu sein, denn Letztere führt sich bei einem Raubüberfall nicht gerade als Sympathieträgerin ein, während Jet zwar angepasst wirkt, den Medienrummel insgeheim jedoch ablehnt und im Einsatz immer wieder ihrem Mitgefühl nachgibt. Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, wird schnell deutlich, denn Iridium verfolgt einen Plan, und Jet leidet unter dem Druck, den man auf die Helden ausübt und unter den Nebenwirkungen, die ihre Fähigkeit mit sich bringt. Die Gegenwartshandlung wird regelmäßig für einen Ausflug in die Vergangenheit unterbrochen. In den Flashbacks erfährt man, wie sich die beiden Hauptfiguren kennenlernten, welche Erfahrungen sie prägten und was schließlich dazu führte, dass sie getrennte Wege gingen. Die Grenzen zwischen ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ brechen auf, nichts ist so, wie die meisten Menschen und Außermenschlichen – und die Leser – geglaubt, es allenfalls vermutet haben. Die Geschehnisse werden abwechselnd aus der Sicht von Iridium und Jet beleuchtet. Die rebellische, hoch intelligente Iridium begann schon früh, etwas zu ahnen, doch die Gewissheit erlangt sie auch nicht schneller als Nights Protegé Jet, die, als sie frei ist von jeglicher Beeinflussung, das Lügengespinst, in dem sie alle gefangen sind, durchschaut. Beide müssen Entscheidungen treffen, die sich auf ihre Zukunft und Freundschaft/Feindschaft auswirken werden. Die Auflösung ist logisch und glaubwürdig.
Der Hintergrund erinnert an eine Mischung aus DC- und Marvel-Universum mit einer Prise Image, Malibu, Dark Horse und so weiter. Die Menge liebt ihre Helden („Justice League of Superheroes“), bei denen es sich um Mutanten („X-Men“) handelt, und kaum einer weiß, dass alles nur schöner Schein ist und die Publikumslieblinge von den Organisationen, für die sie arbeiten, manipuliert werden („Youngblood“). Es geht um Geld und Macht, die Helden müssen („Youngblood“) oder wollen („Booster Gold“) werbewirksam auftreten; das Image ist wichtiger als die Mission. Dabei nehmen die Autorinnen das Wirken der Helden des Golden und Silver Age auf die Schippe, die praktisch ‚nach Handbuch‘ Verbrecher fingen, dadurch vorhersehbar waren und niemals töteten („Superman“). Ab den 1970er Jahren hielt ein neuer Realismus Einzug in die Welt der Superhelden und -schurken, die nun nicht mehr eindimensional gut und böse waren, sondern sich in Grauzonen bewegten („Wolverine“) oder konsequent als Antihelden konzipiert wurden („Spawn“). Plötzlich war es nicht mehr so einfach, ‚Freund‘ und ‚Feind‘ zu erkennen, denn so mancher, der Gutes tun wollte, verursachte ein Desaster („New Warriors“/„Civil War“), beziehungsweise schlugen sich die Verbrecher unerwartet auf die Seite der Retter („Villains United“/„Infinite Crisis“). Auch das Tabu Homosexualität wird nicht vergessen. Beispielsweise wurde dem ‚Dynamischen Duo‘ Batman und Robin in den 1950er Jahren eine deutliche Tendenz unterstellt, und die Künstler, die die Abenteuer der beiden inszenierten, bewegten sich ständig auf unsicherem Boden. Erst in den 1990er Jahren fanden die Verlage den Mut, homosexuelle Helden auftreten zu lassen (Northwind von „Alpha Flight“, Shatterstar und Rictor von „X-Force“, Hulkling und Wiccan von „Young Avengers“, Apollo und Midnighter von „Authority“).
Anleihen, Parallelen und Anspielungen gibt es reichlich – und es macht Spaß zu überlegen, welche Comic-Figuren Pate für den einen oder anderen Roman-Charakter gestanden haben mochten. Jet ähnelt Cloak („Cloak & Dagger“), Shroud („Spider-Woman“) und Shadow Girl („Legion of Superheroes“), Iridium könnte von Dagger („Cloak & Dagger“), Dazzler („X-Men“) und Jubilee („Generation X“) inspiriert worden sein, bei Wolf denkt man an Wolverine („X-Men“) oder Timber Wolf („Legion of Superheroes“), Red Lotus mag auf Karate Kid („Legion of Superheroes“) und Shang-Chi („Heroes for Hire“) zurückgehen, Night erweist sich eher als Magneto („X-Men“) und weniger als Charles Xavier („X-Men“) etc. Blackbird, das Gefängnis für Abtrünnige, ist auch die Bezeichnung für das modifizierte Flugzeug der X-Men. Schätzt man Superhelden, sollte man dem „Ikarus-Projekt“ eine Chance geben. Den beiden Autorinnen gelingt es, eine atmosphärisch dichte Welt zu schaffen und sie mit interessanten Charakteren zu bevölkern, wenngleich der Fokus auf Jet und Iridium gerichtet bleibt und andere Figuren kaum mehr als Statistenrollen inne haben. Das kann sich jedoch noch ändern, denn gewiss werden weitere Romane folgen.
Caitlin Kittredge („Nocturne City“) und Jackie Kessler („Ein Sukkubus in Nöten“) schreiben routiniert, sie lassen den Spannungsbogen immer wieder zu kleinen Höhepunkten ansteigen und überraschen durch unvorhersehbare Wendungen bis zum großen Finale. „Schatten und Licht“, der erste in sich abgeschlossene Band der Serie, ist ein echter Pageturner, der vor allem die Fans von Comic-Serien wie „X-Men“, „Youngblood“, „Legion of Superheroes“ etc. ansprechen wird.