Vertraute Fremde (Comic)

Jiro Taniguchi
Vertraute Fremde
(Harukana-Machi-E, 2005)
Aus dem Japanischen von Claudia Peter
Carlsen, 2007, Paperback mit Klappenbroschur, 410 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-551-7779-9

Christel Scheja

Seit die Mangas entstanden sind, gibt es auch eine Gruppe von Künstlern, die nicht nur reine und sehr seichte Unterhaltungsgeschichten erzählen wollen, sondern das Medium dazu nutzen, um viel ernstere und tiefgründigere Themen anzupacken. Sie verwenden meistens einen sehr wirklichkeitsnahen Zeichenstil, um die Unmittelbarkeit und den Realismus ihrer grafischen Erzählungen hervorzuheben. Einer der bekanntesten und beliebtesten Mangaka aus dieser Gruppe ist der 1947 geborene Jiro Taniguchi, der bereits für mehrere seiner Titel ausgezeichnet wurde. Mit sehr viel Feingefühl und klarer Sicht gewährt er Einblicke in das Leben ganz normaler Menschen in einem Japan, wie es jenseits der Touristenzentren zu finden ist.

„Vertraute Fremde“ beginnt damit, dass der 48jährige Architekt und Geschäftsmann Hiroshi Nakahara auf der Heimreise zu seiner Familie in den falschen Zug steigt. Er landet in dem kleinen Ort, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hat und wo auch seine Mutter begraben liegt. Wie magisch wird er zu ihrem Grab gezogen. Und da geschieht es. Er fällt in Ohnmacht und findet sich ganz plötzlich im Jahr 1963 wieder – als er selbst nur 14 Jahre alt war und einige wenige Monate bevor sein Vater verschwand, was seiner Mutter nie überwinden konnte. Zunächst ist Hiroshi verwirrt und gerührt zugleich, weil er seine Familie noch einmal wiedersieht, als sie glücklich und zufrieden war und er selbst sein Wissen um die Zukunft behalten hat. Tatsächlich begreift er nach und nach, dass dieser magische Zwischenfall, der mehr als ein Traum zu sein scheint, auch eine Chance ist. Nachdem er erst einmal kleine Dinge zu ändern beginnt, beschließt er sogar etwas anderes: Er will verhindern, dass sein Vater kurz vor dem Ende der Sommerferien so einfach verschwindet. Dafür muss er aber erst einmal herausfinden, warum dieser einfach gegangen und nicht wieder gekommen ist. Als Hiroshi das tut, erlebt er eine große Überraschung, denn alles ist anders als er immer gedacht hat ...

Jiro Taniguchi hat in seiner grafischen Erzählung ein Thema aufgegriffen, dass viele Menschen kennen und auch schon bewegt hat. Wie wäre es, mit dem Wissen der Gegenwart in die Vergangenheit zu geraten? Widersteht man der Versuchung, die Geschehnisse ändern zu wollen? Wenn ja, was passiert dann? Und letztendlich: Ist es überhaupt möglich, den Lauf der Dinge noch einmal abzuändern?

Mit feinem Strich, genauer Beobachtung und sehr ausführlichen Szenen setzt der Künstler diese Gedanken in Szene. Man lernt den Helden so gut kennen, dass man sich bald sehr leicht in ihn hineinversetzen kann, mit ihm fühlt und empfindet. Er erhält Tiefe, genauso wie die anderen Charaktere, die enger mit Hiroshi zu tun haben. Auch wenn die Geschichte sehr ruhig bleibt und eine Menge alltäglicher Dinge schildert, ist sie doch sehr spannend, da man das innere Drama gut mit verfolgen kann. Und letztendlich findet der Autor eine schöne und versöhnliche Lösung für das Ende der Geschichte – in dem nicht alles so ist, wie es einmal war. Dezent fügen sich die wenigen phantastischen Elemente ein und ergänzen die feinfühlige Studie des Künstlers. Auch seine Zeichnungen unterstützen die Atmosphäre, spiegeln sich doch in Mimik und Gestik viele Gefühle und Gedanken der Figuren wieder, lassen dem Leser aber auch noch Interpretationsmöglichkeiten.

Alles in allem ist „Vertraute Fremde“ ein bewegendes Stück japanischer Geschichte, das vor allem dem westlichen Leser einen schönen Einblick in das Leben einfacher Japaner gibt.