G. Willow Wilson: Alif der Unsichtbare (Buch)

G. Willow Wilson
Alif der Unsichtbare
(Alif the Unseen, 2012)
Übersetzung: Julia Schmeink
Tor, 2018, Taschenbuch, 524 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-596-29936-2 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Die Kontrastierung der modernen, technologisch geprägten westlichen Welt mit den Mythen und Riten einer alten Kultur übt sicherlich von je her einen besonderen Reiz auf viele Leser aus. Vor allem das Spannungsfeld von rigiden muslimischen Glaubens- und Lebensvorschriften und die daraus resultierenden Eingriffe in persönliche Freiheiten auf der einen Seite und die Segnungen moderner Informationstechnologien auf der anderen Seite ist zweifellos ein einerseits schwieriges, andererseits auch lohnendes Betätigungsfeld für jeden Autor.

Besonders in der Fantasy finden sich einige reizvolle Werke, welche sich auf äußerst unterhaltsame und anregende Weise mit den Geschichten aus 1001 Nacht und den typischen orientalischen Mythologien auseinandersetzen, diese aber etwas in die moderne Welt holen. Dies gilt vor allem für die wunderbare siebenbändige Serie um die „Kinder des Dschinn” des schottischen Autors Philip Kerr (veröffentlicht unter dem „Pseudonym” P. B. Kerr) und auch für die beiden wundervollen Bände um die Abenteuer des jungen Zauberers Trix Solier des russischen Bestseller-Autors Sergej Lukianenko.

Moderner, intelligenter und dabei noch extrem kreativer setzt dies der US-amerikanische Autor George Alec Effinger in seiner Trilogie um Marid Audran um, die in Deutschland bei Heyne unter den Titeln „Das Ende der Schwere“, „Ein Feuer auf der Sonne“ und „Der Kuss des Exils“ erschienen ist, welche das Hereinbrechen moderner elektronischer Informationstechnologie (welche größtenteils in den Körper hinein implantiert und dort direkt angeschlossen wird an das Bewusstsein des Menschen) in einen traditionellen Staat muslimischer Prägung beschreibt. Dies schien bisher der einzige gelungene Versuch gewesen zu sein, moderne Science Fiction in der arabischen Welt spielen zu lassen (zumindest ist dem Rezensenten kein anderes empfehlenswertes Beispiel bekannt).

G. Willow Wilson wagt etwas Ähnliches (wenn auch ihre Geschichte sich stärker der Fantasy zuwendet als Effinger), indem sie, in Bezugnahme auf die Vorfälle während des Arabischen Frühlings, das Schicksal eines jungen Computerhackers schildert, dessen Beschäftigung das virtuelle Verbergen dissidenter Landsleute ist, die ihre Seiten und Meinungen heimlich im Internet veröffentlichen möchten, ohne deshalb verhaftet, gefoltert und getötet zu werden. Alif, wie er sich nennt, schafft für jeden die passende Camouflage, einen Tarnschirm, damit Querdenker ihre Meinung zumindest unter Verhüllung ihrer Identität posten können.

Alif lebt in einem der ölreichen Golfstaaten, und auch wenn das Setting bei Wilson fiktiv ist, so ähneln sich die dortigen realen staatlichen Strukturen doch so sehr, um diese alle mit einzuschließen.

Der Roman entstand 2012, also noch unter dem deutlichen Eindruck des Arabischen Frühlings, und man kann als Leser nicht umhin zu vermuten, dass mit dem hier geschilderten fiktiven Charakter einer jungen US-amerikanischen Studentin, die zum muslimischen Glauben konvertiert ist und in diesem Golfstaat lebt und studiert, vielleicht sogar ein Alter Ego der Autorin (die wohl ebenfalls Konvertitin ist, wenn mich meine Recherche nicht trügt) in der Handlung auftritt.


Doch zunächst zur geschilderten Geschichte: Der junge Alif ist unsterblich verliebt in eine reiche Tochter eines Nachbarn. Doch Intisar, so der Name der jungen Frau, will standesgemäß heiraten und wird ausgerechnet an den mächtigsten Geheimpolizisten des Staates, der „Die Hand” genannt wird, vermittelt. Sofort bekommt letzterer mit, dass er einen unschicklichen Nebenbuhler hat, der nicht nur ein halber „Bastard” ist, sondern auch als Hacker seine Dienste an alle verkauft, die etwas zu verbergen haben in dem repressiven Staat. Dabei ist es Alif egal, wer seine Auftraggeber sind, er arbeitet sowohl für Islamisten als auch für Kommunisten, Demokraten oder sonstige „Aufrührer”.

Schnell steht Alif auf der Abschussliste des Geheimdienstes und ist in Begleitung eines jungen Nachbarmädchens namens Dina und einer meist Konvertitin genannten US-amerikanischen Studentin auf der Flucht, zumal Intisar ihm ein wertvolles Geheimbuch kurz vor dem Kontaktabbruch hat zukommen lassen, welches angeblich nicht von menschlicher Hand geschrieben worden ist.

Und so gerät Alif, bedroht mit Folter und Tod, bei seiner Flucht in die Welt der Dschinn und lernt Vikram den Vampir (der gar kein Blutsauger ist), einen dieser Feuergeister kennen, der Alifs Entkommen versucht zu unterstützen. Doch der Ring der Verfolger zieht sich immer enger um die Flüchtenden und bald sind diese in einer Moschee eingekesselt und warten dort auf ihr letztes Stündlein. Gelingt Alif und seinen Freunden vermittels des geheimnisvollen Buchs doch noch die Flucht oder kann Alif sogar durch ein neues Computerprogramm die Staatsmacht stürzen?


So weit so spannend, wäre nicht die Tatsache, dass die Geschichte doch einige Seiten zu viel aufweist. Wäre das Buch statt 520 Seiten nur 320 Seiten lang, wäre es eine fulminante Erzählung. So hat die Handlung aber durchaus einige Hänger.

Leider ist der schmucklose, recht einfache Stil der Autorin ein weiterer Minuspunkt beim vorliegenden Werk.

Großes Plus des Buchs ist die tolle, sehr glaubhafte Atmosphäre und die sympathischen Protagonisten, die mit viel Verve entwickelt werden. Vor allem der Hintergrund der sehr traditionellen, deutlich in soziale Klassen und Geschlechter getrennten Lebenswelten der Figuren wird von der Autorin vorbildlich beschrieben, während die Schilderungen optischer oder anderer Eindrücke der Umwelt manchmal etwas zu wünschen übriglassen.

Zu den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten gibt es einen Extra-Anhang mit Wort-Erklärungen am Ende des Buchs. Dieser Anhang versagt dem Leser aber leider jenseits der Seite 300 den Dienst (dann findet man leider keine Erklärungen mehr für hier verwendete traditionelle Wörter).

Insgesamt ist „Alif der Unsichtbare“ ein interessantes und auf jeden Fall besonderes Buch, welches man gelesen haben sollte, auch wenn es nicht perfekt ist (obwohl es den World Fantasy Award erhielt, was sicherlich dem exotischen Thema und dem durchaus aktuellen politischen Thema ebenso geschuldet ist wie der innovativen Verquickung aller hier verwendeten Sujets) und bezüglich der Spannung manchmal zu geschwätzig und inkongruent daher kommt.

Die farbenprächtige Atmosphäre und die glaubhaften Protagonisten rechtfertigen die Anschaffung dieses Buchs aber ebenso, wie die wunderbare Verquickung orientalischer Mythen mit der modernen westlichen Welt, welches der vorliegenden Geschichte das gewisse Etwas gibt. Zwar kann sich dieses Buch literarisch auf keinen Fall mit George Alec Effingers grandioser Trilogie um Marid Audran messen und hat auch nicht die unterhaltenden Qualitäten der beiden Trix-Solier-Romane oder des „Kinder des Dschinn”-Zyklus, aber, unter Würdigung aller Qualitäten, kann man „Alif der Unsichtbare“ gleich hinter diese Werke einordnen, zumal ihm eine wichtige politisch-ethische Dimension („Arabischer Frühling”) zugrundeliegt, welche die Geschichte durchaus facettenreich reflektiert.