Andrej Rubanov: Chlorofilija (Buch)

Andrej Rubanov
Chlorofilija
(Hlorofiliya, 2009)
Deutsche Übersetzung von Anja Freckmann
Heyne, 2014, Taschenbuch, 428 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-453-31556-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Der Roman spielt im Moskau des 22. Jahrhundert (also zu einer Zeit, in der auch berühmte Werke der Gebrüder Strugatzki spielen, weshalb es in der Handlung auch einen Verweis auf deren Geschichten gibt).

Die Stadt ist zu einer Megalopolis mit knapp 40 Millionen Einwohnern geworden, während riesige Gebiete Russlands leer stehen oder von „primitiven Stämmen” bewohnt werden. St. Petersburg ging den Russen irgendwie „verloren”, alle anderen Städte sind nahezu unbewohnt. Die Chinesen haben Sibirien gemietet, um dort die Rohstoffe auszubeuten. Dafür zahlen sie den Moskauern so viel und liefern so viel Technologie, dass niemand in der Riesenstadt mehr arbeiten muss. Den Europäern geht es sehr schlecht, die US-Amerikaner sind verfettete Witzfiguren, während die Chinesen alle Neuentwicklungen in ihren Händen halten.

Gewaltige Türme erstrecken sich im ganzen Stadtgebiet von Moskau, und wer vermögender ist, kann sich höhere Stockwerke leisten, während jenseits des 100. Stocks nur noch superreiche Chinesen leben. Der Vorteil höher Wohnungen liegt darin, dass man dort Sonnenlicht abbekommt, denn ganz Moskau ist bewachsen von gigantischen Halmen, deren Fruchtfleisch eine stark euphorisierende Wirkung hat. Versuche, die Pflanzen zu zerstören, erzeugen nur immer neue Pflanzen, und so hat man sich in Moskau an der Wachstum gewöhnt und daran, dass illegale Dealer immer wieder Pflanzen fällen, um an die Droge zu kommen. Neben der mild euphorisierenden Wirkung machen Konzentrate des Fruchtfleischs die Leute auch zufrieden und glücklich, so dass immer neue Destillationsmethoden erfunden werden, um die Wirkung der Pflanze noch zu optimieren. Und obwohl niemand weiß, woher die Pflanzen kommen, behaupten doch alle, dass deren Wirkung weder toxisch noch Sucht erzeugend sei. Deshalb gelten Konsumverbote zwar immer noch offiziell, aber der Rechtsstaat hat längst kapituliert und lässt den Handel frei gewähren.

Jeder Moskauer, der sich einen Chip zur Totalüberwachung hat einpflanzen lassen, profitiert vom staatlichen Wohlfahrtsprogramm und wird alimentiert, keiner muss mehr arbeiten. In den unteren Etagen der Türme wohnen nur die Illegalen, die Diebe, Dealer und Verbrecher, die sich mit Verbrechen und Tauschhandel über Wasser halten. Diese Leute stellen für viele aber eine große Macht dar. Niemand muss mehr arbeiten, wenn er sich den Chip einpflanzen lässt, den man den Moskauer Bürgern als Wohltat verkauft hat, wacht er ja auch über deren Gesundheit und Wohlbefinden (aber auch über alle anderen Dinge). Eine Art Totalüberwachungs-Big-Brother ist der große Hit für einige, wobei jeder, der sich dieser Gemeinschaft freiwillig angeschlossen hat, zustimmt, die Überwachungskameras in jeder Räumlichkeit installieren zu lassen, auch im Badezimmer, sogar in den Toiletten, auch im Schlafzimmer, so wie alle anderen Teilnehmer dieser Show dies auch tun.

In dieser verrückten Welt lebt der Chefredakteur Saweli Herz, der für ein bekanntes Magazin schreibt. Da er gerne arbeitet und dabei auch gut verdient, kann er sich eine Wohnung in einem höheren Stockwerk leisten, schließlich gelingt ihm sogar der Aufstieg zum obersten Chef des Magazins, dessen Auflage er deutlich steigern kann. Zudem erwartet seine Partnerin ein Kind, und so könnte alles in bester Ordnung sein, wäre da nicht das Gerücht, dass die Chinesen Sibirien komplett ausgebeutet hätten und sich bald von dort zurückziehen wollten. Doch was wird dann aus den staatlichen Alimenten?

Und während Saweli Herz sich noch Gedanken über die Zukunft der Moskauer Gesellschaft macht, greift ein anderes, viel schlimmeres Unheil um sich, denn der allgegenwärtige Drogenkonsum fordert doch sehr plötzlich einen unglaublichen hohen Tribut von den Moskauern...

Eine Parabel auf den derzeitigen russischen Staat? Eine ätzende Satire? Oder doch nur ein ideenreicher, clever erdachter Unterhaltungsroman?

Rubanovs Werk lässt sich sicherlich auf vielerlei Arten lesen, wobei ihm aber immer ein hoher Unterhaltungswert attestiert werden muss. Auch wenn „Chlorofilija“ im Mittelteil leichte Hänger aufweist, die vielen Ideen des Autors und die (zwar nicht immer aber doch oft) überzeugende Gesamtkonstruktion sorgen für viel Amüsement beim Leser. Vor allem die dekadente Atmosphäre dieser trägen, saturierten Gesellschaft erschafft der Autor meisterhaft. Schade, dass die etwas flachen Charaktere hier nicht mithalten können.

Rubanovs Roman ist eine echte Entdeckung, zwar mit deutlichen Schwächen, aber auch von solchen Stärken, dass sie den Rezpienten über die volle Distanz bei Laune zu halten vermögen. Ein Tipp für alle SF-Leser, die auf kreative, einfallsreiche Geschichten scharf sind.