Aimee Agresti: Das Dunkel der Seele – Die Erleuchtete 1 (Buch)

Aimee Agresti
Das Dunkel der Seele
Die Erleuchtete 1
(Illuminate, 2012)
Aus dem Amerikanischen von Sonja Hagemann
Goldmann, 2013, Paperback mit Klappenbroschur, 574 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-442-47754-8 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Haven Terra ist etwa zehn Jahre alt, als sie allein, verletzt und ohne Erinnerungen gefunden wird. Joan Terra, eine Krankenschwester, nimmt sie als Tochter an; die Angestellten und Patienten im Krankenhaus werden zur Familie des Mädchens. In der Schule gehört sie zu den besten und erweist sich als talentierte Fotografin. Ihr Traum ist, Medizin zu studieren, weshalb sie sich um Zusatzqualifikationen und Stipendien bemüht.

Zu ihrer großen Überraschung wird Terra kurz vor ihrem 16. Geburtstag darüber informiert, dass sie ein Stipendium des Kultusministeriums Illinois für künftige Führungskräfte erhalten hat und im renommierten Lexington Hotel in Chicago ein halbjähriges Praktikum absolvieren darf. Zwei Mitschüler, Dante und Lance, nehmen an demselben Projekt teil. Während Dante schon seit Jahren Havens bester Freund – und schwul – ist, kennt sie Lance nur vom Sehen. Gleich nach dem Eintreffen im Lexington Hotel werden die drei von ihren Mentoren unter die Fittiche genommen: Dante unterstützt Eton in der Küche, Lance geht dem attraktiven Lucian zur Hand, Hotelleiterin Aurelia setzt Haven als Fotografin und persönliche Assistentin ein. Die Jugendliche fühlen sich geehrt und wollen mehr als ihr Bestes geben an diesem geschichtsträchtigen Ort – Al Capone war einst Gast und dient als Motto – voller schöner, wichtiger Menschen.

Anlässlich der Neueröffnung des Hotels macht Haven eine Fotoserie von Aurelia, Lucian, dem Syndikat – wie die höherrangigen Angestellten bezeichnet werden – und auch von sich und ihren Freunden. Die Bilder finden reichliche Beachtung, doch zu Havens großem Ärger scheinen einige ausgetauscht und andere sogar beschädigt worden zu sein, so dass sie wieder entfernt werden. Auch machen künftig Profis die Fotos. Gleichzeitig beginnt eine ganze Reihe seltsamer Vorkommnisse, angefangen mit einem Tagebuch, in dem plötzlich mysteriöse Einträge erscheinen, die Haven vor ihr drohenden Gefahren warnen und Ratschläge geben, wie sie sich schützen kann. Sie entdeckt unterirdische Gänge, durch die es ihr möglich ist, Aurelia, Lucian und die Syndikat-Mitglieder zu belauschen. Was sie erfährt, erschüttert sie schwer: Lucian flirtet nur mit Haven, um sie an sich und das Böse zu binden, das hinter der glänzenden Fassade des Hotels und seiner Angestellten lauert. Auch Dante und Lance versucht man mit dem zu locken, wonach sie sich am meisten sehnen. Aber gehen sie auf den Handel ein, zahlen sie mit ihrer Seele und gehören dem mysteriösen Fürst, der genau der ist, für den Haven ihn hält.

Die kurze Zusammenfassung wird dem Buch nicht wirklich gerecht, aber würde man mehr verraten, würde man den Leser um die vielen kleinen und großen Überraschungen bringen.

Langsam, fast schon behäbig baut die Autorin die Handlung auf und intensiviert nach und nach die unheilvolle Atmosphäre: Sie stellt die Protagonisten vor, drei junge Nerds, die plötzlich in die beeindruckende Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen Einlass erhalten und sich von hässlichen Entleins in stolze Schwäne verwandeln dürfen. Indem man sie gemäß ihrer Fähigkeiten einsetzt, fördert und lobt, ihnen Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt und ihnen eine großartige Zukunft in Aussicht stellt, zappeln sie schon bald wie die Fliegen im klebrigen Netz der Spinne. Aber schnell merken Haven, Lance und Dante, dass etwas sonderbar ist. Die attraktiven Mitglieder des Syndikats gehen stoisch ihren Tätigkeiten nach, ignorieren die Praktikanten und wirken seelenlos. In diesem Punkt trägt die Autorin zu dick auf; aber hätte sie jenen Personenkreis stärker involviert, wäre die Zahl der austauschbaren Statisten zu groß geworden. Vor allem Haven und Lance bewahren sich einen Rest rettendes Misstrauen, während Dante, der immer mehr zum Klischee-Schwulen mutiert und sich verzweifelt nach Akzeptanz und einem Partner sehnt, zunehmend den Verlockungen erliegt.

Das erkennt Haven nicht allein an seinem veränderten Verhalten. Hier kommt nun das vorangestellte Zitat aus Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“, ein Roman, der außerdem die Schullektüre ihres Literaturkurses war, zum Tragen. Haven, ihre Fotos und die Personen darauf haben eine ganz spezielle Verbindung, die später von großer Bedeutung sein wird. Längst ist klar, dass die Protagonistin nicht bloß eine einfache High-School-Absolventin ist. Die Wunden, jetzt Narben, mit denen sie als Kind gefunden wurde, lenken den Leser auf die richtige Spur. Auch Lance und Dante sind mehr, als sie scheinen. Merkwürdigerweise erhält jedoch nur Letzterer wie Haven Anweisungen eines Unbekannten, während Dante allein herausfinden muss, dass er in eine Falle getappt ist. Vermag er sich aus dieser zu befreien?

Gelingt es den dreien, Aurelia und ihre Handlanger unschädlich zu machen? Können sie dem Fürst entkommen? Welche Position wird Lucian letztlich einnehmen, der behauptet, seinen Fehler zu bereuen? Wer ist der unbekannte Helfer der Jugendlichen? Nicht alle dieser Fragen werden in „Das Dunkel der Seele“ beantwortet. Die Fortsetzung, „Der Ruf des Bösen“, ist für Dezember 2013 angekündigt und wird mit weiteren Prüfungen und Kämpfen aufwarten.

Aimee Agresti schildert die Geschehnisse ausführlich aus der Sicht ihrer Hauptfigur Haven. Obschon die Handlung lange braucht, um in Schwung zu kommen, weist sie keine Längen auf dank der geschickten Steigerung, welche mit einer glamourösen Chance für drei junge Menschen beginnt, die immer mehr durch Absonderlichkeiten und Drohungen pervertiert wird, sich als wachsende Gefahr entpuppt und letztlich in einen Kampf ums nackte Überlebe eskaliert.

Die Charaktere erfüllen ihre Rollen: Haven ist Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung, Dante ihr plötzlich unzuverlässiger Kumpel, Lance der unerwartete Vertraute, Lucian der undurchschaubare Schönling, der sicher noch für einige Überraschungen gut sein wird, Aurelia die skrupellose Gegnerin. Man kann sich leicht in Havens Situation versetzen, mit ihr staunen, sich ängstigen, aufbegehren, kämpfen, lieben und leiden.

Das Grundthema, der ewige Konflikt Gut gegen Böse, bedient sich entsprechender Genre-Archetypen, wird jedoch unterhaltsam, spannend und überzeugend in Szene gesetzt. Der erste Band der Reihe „Die Erleuchtete“ ist somit spannendes All-Age-Lesefutter für Fantasy- und Mystery-Fans, die eine packende Handlung wünschen, die nur nebenbei von romantischen Momenten gewürzt wird.