Anika Beer: Wenn die Nacht in Scherben fällt (Buch)

Anika Beer
Wenn die Nacht in Scherben fällt
Titelgestaltung von Kathrin Schüler
cbj, 2013, Paperback mit Klappenbroschur, 416 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-570-40202-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Nele zieht mit ihren Eltern von München nach Erlfeld. Gleich in der ersten Nacht beginnt sie, so heftig zu träumen wie lange nicht mehr und begegnet dem mysteriösen Seth, der die Wachträumerin zu überreden versucht, ihn durch die Traumwelt zu begleiten. Was auch immer er vorhat misslingt, und Nele erwacht zerschlagen aus einem Traum, der sie ängstigt.

In der Schule lernt sie den wortkargen Jari kennen, der zu Hause große Probleme hat, von denen niemand erfahren soll. Zögerlich öffnet er sich ihr, und sie kommen einander näher. Obwohl er äußerst zuverlässig ist, erscheint er eines Tages nicht zu ihrer Verabredung und im Unterricht. Schlimmes befürchtend, will Nele ihn daheim besuchen. Zwar wird sie von der Mutter, einer Alkoholikerin, in die Wohnung gelassen, aber wo Jari steckt und was ihm zugestoßen ist, erfährt Nele nicht. Anderentags taucht Jari wieder auf, tut, als wäre nichts gewesen – aber er ist anders als zuvor, schwänzt den Unterricht, beleidigt einen Lehrer, unterhält sich plötzlich mit Klassenkameraden, um die er stets einen Bogen machte, und verwirrt Nele total. Am Abend bittet er sie um Einlass in ihr Zimmer und verspricht, alles zu erzählen, doch es sind, wie Nele ahnt, bloß Halbwahrheiten. Sie begreift, dass der Junge, der wie Jari aussieht, ein anderer ist und einen Plan verfolgt, der eine Katastrophe zur Folge haben könnte. Die Anzeichen, dass es bereits begonnen hat, mehren sich. Nur wenn Nele Jari in den Träumen noch rechtzeitig findet, kann vielleicht verhindert werden, worauf Seth hofft…

Anika Beer greift zwar kein neues Thema auf, indem sie einzelne Personen mit der Fähigkeit ausstattet, durch Träume reisen und sie beeinflussen zu können, doch ist das Motiv in der vorliegenden Form frisch und ein wenig anders: Wenn die Menschen träumen, befinden sie sich in ihren persönlichen Traumkammern, die das Nachtglas berühren. Dahinter beginnt die Unendlichkeit, in der diese Träume wahr werden. Damit sich die Träumer nicht verirren und am Morgen zurückfinden, wachen die Katzen über sie. Ganz wenige Menschen sind Wachträumer wie Nele, die ihre eigenen Träume gestalten und in die anderer eindringen können. Der faszinierende Seth überredet das Mädchen, ins Nachtglas vorzudringen, doch sie fällt heraus, da normalerweise niemand dort hinein kann.

Dann passiert das Unglück: Jari gerät auf die andere Seite, weil seine Wächterin abgelenkt war, und kann nicht mehr zurück. Stattdessen versinkt er tiefer und tiefer in seinem Traum und in der Unendlichkeit. Was er sich erträumt, stört das Gleichgewicht. Das Nachtglas bekommt einen Riss, durch den Träume in die Realität gelangen, und droht, ganz zu zerbersten. Wenn das geschieht, hört die bekannte Welt auf zu existieren, die Menschen sind in ihren Träumen gefangen und die Katzen frei von ihrer Aufgabe als Hüter.

Nele will zunächst nur Jari retten. Als ihr klar wird, dass sehr viel mehr auf dem Spiel steht, als sein und ihr Leben – auch sie könnte in der Traumwelt verloren gehen, was ihr einmal beinahe schon passiert wäre. Dennoch will sie es riskieren, selbst wenn sie Seth nicht vertrauen darf und nicht weiß, ob sie von Jari, der Katze Tora und der Katzengöttin Fae viel Hilfe zu erwarten hat, ist sie doch die Einzige, die den Jungen aus seinem Traum holen und das Nachtglas heil machen kann.

Die Protagonisten sind interessant und sympathisch, wenngleich die Autorin ein bisschen zu dick aufträgt, indem sie Nele zu einem von braven Eltern umsorgten Edel-Punk (mit Lippen-Piercing, an dem sie ständig zupft) und Jari zu einem Problem-Kid aus zerrütteten Verhältnissen macht, zu denen sich noch einige eher spießige ‚Durchschnittsmädchen‘ gesellen. Dass Seth so etwas wie ‚der Böse‘ ist, macht schon sein Name deutlich (nach der ägyptischen Gottheit Seth, der einerseits als Chaosbringer, andererseits als Beschützer der Oasen gilt). Was ihn bewegt, die Ordnung und nahezu alles zerstören zu wollen, wird nicht ganz klar. Dass er Jaris Körper behalten, Nele für sich haben – obwohl er der Ansicht ist, dass Katzen den Menschen überlegen sind – und kein Wächter mehr sein möchte, klingt recht dünn; denn was bleibt nach der Katastrophe? Eine Traumwelt voller Katzen mit einigen Wachträumern wie Nele? Allerdings hätte Seth kaum die Möglichkeit dazu erhalten, wäre nicht Fae ein Fehler unterlaufen, indem sie über ihn eine aus unerklärlichen Gründen zu milde Strafe verhängt hat, die alles erst ins Rollen brachte.

Abgesehen davon findet man nichts, was sich beanstanden ließe, denn Anika Beer erzählt flüssig und unterhaltsam und zieht ihre Leser – insbesondere Leserinnen ab 13 Jahre – in ein spannendes, unterhaltsames Fantasy-Abenteuer, das auch dem reiferen Publikum Spaß macht.