Fabienne Siegmund (Hrsg.): Die Einhörner (Buch)

Fabienne Siegmund (Hrsg.)
Die Einhörner
Titelbild und Innenillustrationen von Elke Brandt
Verlag Torsten Low, 2012, Taschenbuch, 326 Seiten, 13,90 EUR, ISBN 978-3-940036-12-4

Von Christel Scheja

Neben Drachen gehören Einhörner zu den Fabelwesen, die schon den Kleinsten vertraut sind. Vor allem junge Mädchen sind von ihnen fasziniert, verbinden sie doch märchenhafte Magie und Schönheit mit einer Leidenschaft, die viele von ihnen haben: die Liebe zum Reiten und den Pferden. So ist es nicht verwunderlich, dass sich immer wieder Schriftsteller mit Einhörnern beschäftigen, wissen sie doch, dass dadurch das Interesse von mehr Lesern geweckt wird, als wenn sie sich Greifen Schimären oder Mantikore aussuchen würden. Fabienne Siegmund hat nun in der von ihr herausgegebenen Anthologie „Die Einhörner“ eine ganze Reihe von mehr oder weniger bekannten Autoren versammelt.

Peter S. Beagles „Das letzte Einhorn“ ist zu einem Klassiker der Fantasy geworden. „Im Tiefen Wald“ ist zwar nur ein Gedicht, aber eine deutsche Erstveröffentlichung, die dem Buch eine ganz besondere Note gibt. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Ralf Isaus „Das Einhorn“ um einen Auszug aus seinem bei Thienemann erschienenen Roman „Der Zirkel der Phantanauten“.
Die restlichen fünfzehn Autoren haben aber wie Peter S. Beagle Erstveröffentlichungen beigesteuert. Einige Erzählungen sind fest in der Realität verankert und berühren ernste Ereignisse. „Das letzte Licorne“ spielt im Jahr 1939. Ein Junge hat sich eng mit einem Zirkusmädchen angefreundet, ohne zu ahnen, dass er damit das Geheimnis der Fahrenden in tödliche Gefahr bringt und großes Unheil über sich und die Menschen bringt.
„Alisons Tränen“ werden nicht ohne Grund vergossen, denn das Mädchen wird von ihrem Vater misshandelt. Sie flüchtet sich dann immer zu einer Einhornstatue im Garten, die mehr als nur aus Stein ist.
Eine sechzigjährige Lehrerin ist ganz froh, endlich in Rente gehen und ihr eigenes Leben führen zu können. Sie will auch weg von dem Spott, den man ihr so lange entgegengebracht hat, weil sie einmal zu viel erzählt hat, was sie gesehen haben will. Durch „Fräulein Ludmillas Einhorn“ gilt sie als schrullig – aber die Begegnung in einer Bar mit einem Mann, der sich nicht betrinken kann, öffnet ihr den Weg in ein neues Leben.
Andere Geschichten vermischen die reale und die märchenhafte Welt viel stärker, wie „Seelenjäger“, in der ein Einhorn einen einfachen Londoner Schuhputzer bittet, ihm nach Hause ins Sommerland zu helfen, oder aber „Geliebte des Waldes“, in der sich ein alter Mann auf die Suche nach einem Mittel macht, um seine an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte Frau zu retten und sich dabei selbst fast verliert.
Ganz der Fantasy verschrieben haben sich „König der Edelsteine“, in der ein Jäger und Abenteurer versucht ein Juwel zu erbeuten, das im Horn eines ganz bestimmten Einhorns verborgen ist und damit dem Bösen Tür und Tor öffnet, „Wie der erste Kaiser der Unicornus-Dynastie geboren wurde“ ist ein Märchen reinsten Wassers mit tapferen Rittern und einer sterbenden Prinzessin, und „Die Jäger des Kagan“ entführt schließlich in die Welt der asiatischen Zauberwesen.

Dies sind nur einige der insgesamt siebzehn Geschichten, die eine große Bandbreite von Themen abdecken. Da gibt es Geschichten, in denen der phantastische Anteil eher gering ist, die Macht des Einhorns aber über Krieg und Frieden entscheidet wie „Das letzte Licorne“, das fest in der bitteren Realität des Dritten Reichs verankert ist, oder solche, die dem Märchen treu bleiben und eine eher verträumte Atmosphäre bieten. In anderen Erzählungen finden Außenseiter, die bisher nur Schmerz und Angst erlebt haben, durch ihr Einhorn neues Glück oder zumindest Hoffnung. In anderen müssen sich die Zauberwesen ihrer Haut erwehren und zu mehr oder minder gemeinen Tricks greifen und nicht zuletzt sind sie sogar recht böse wie in „König der Edelsteine“, die sich als actionreiches Fantasy-Abenteuer entpuppt – ähnlich wie die „Jäger des Kagan“.

Im Allgemeinen überwiegt aber die positive Ausstrahlung der Einhörner. Zwar greifen die Autoren gelegentlich auf klassische Märchenthemen zurück, verfallen aber niemals dem Kitsch. Die Einhörner der Anthologie sind lebensbejahende und weise Wesen, aber niemals wirklich naiv. Sie fühlen sich zwar mit der Unschuld in der Seele von Menschen verbunden, wissen aber auch genau, wann sie betrogen werden oder sie sich wehren müssen. Alles in allem deckt die Sammlung sehr viele Facetten des Einhorn-Mythos’ ab, die man selten so geballt in einem Buch findet. So kann der Leser beruhigt zu dem Band greifen, da er garantiert eine oder mehrere Geschichten finden wird, die ihm gefallen.

Die Zeichnungen unterstützen diesen Eindruck. Sie sind in einem ganz eigenen Stil gehalten, der einerseits realistisch wirkt, andererseits aber auch die Magie der Zauberwesen durch eine gewisse zeitlose Naivität einfängt.

„Die Einhörner“ ist eine ambitioniert zusammengestellte und gut durchmischte Anthologie, die zeigt, dass diese Zauberwesen wie in den klassischen Mythen der Welt mehr als nur ein Gesicht haben und auch heute noch Autoren ganz neue Facetten zum Thema beisteuern können, die fern von Kitsch und Kommerz sind.