Carin Chilvers: Der Andere (Buch)

Carin Chilvers
Der Andere
Titelgestaltung von Sig Mayhew unter Verwendung von Fotos von Kiselev Andrey Valerevich/Davor Ratkovic (Shutterstock)
Südwestbuch, 2012, Paperback, 240 Seiten, 12,50 EUR, ISBN 978-3-942661-91-1

Von Irene Salzmann

Der Bankangestellte Alexander Schwertfeger ist auf unerklärliche Weise von seinem Kunden Mark Brenner so fasziniert, dass er ihm einen ungesicherten Kredit für die Einrichtung eines Tattoo-Studios und die Anschaffung einer Harley gewährt. Im Gegenzug bekommt Alexander von seinem neuen Freund ein Irezumi gestochen, dass mit seinem eigenen identisch ist.

Im gleichen Maße, wie Alexander sich zu verändern beginnt und Mark immer ähnlicher wird, entfremdet er sich von seiner Frau Eva. Tilly, seine Mutter, merkt nichts davon, sondern freut sich, dass der junge Mann einen Kameraden gefunden hat, der wie ein Bruder für ihn ist – der wie ein zweiter Sohn für sie ist. Als jedoch das Irezumi fertig ist und Mark bloß noch Zeit für seine neue Freundin Claudia hat, befürchtet Alexander, das zu verlieren, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hat und das er all die Jahre nicht fassen konnte. Die Katastrophe scheint unausweichlich…

„Der Andere“ erschien bereits 2003 im Betzel Verlag unter dem Titel „Irezumi“ und erfuhr nun eine überarbeitete Neuauflage bei Südwestbuch. Dabei wurde die Handlung in die ‚Gegenwart‘ verlagert, was Anspielungen auf das aktuelle Tagesgeschehen – Bankenkrise, die drohende Insolvenz Griechenlands etc. – verdeutlichen.

Die Autorin hält sich nicht mit einer langwierigen Einführung auf. Alles, was wichtig ist, erschließt sich aus den laufenden Geschehnissen. Der Leser lernt die Hauptfigur Alexander Schwertfeger kennen, der von Albträumen geplagt wird, an die er sich nie erinnern kann, und der, obgleich er glücklich verheiratet ist, seine Junggesellenwohnung erhalten hat und in dieser seinen eigentümlichen Neigungen nachgeht. Als er Mark Brenner kennenlernt, ändert sich alles für ihn und er selbst sich am meisten.

Was ihn an dem anderen Mann fasziniert, bleibt lange ein Rätsel, denn dieser Punkt ist letztlich der Schlüssel zu Alexanders Träumen und einer Tragödie, die viele Jahre zurückliegt und die seine Mutter immer erfolgreich zu verschleiern wusste. Durch ihr Schweigen wollte sie Alexander beschützen, legte jedoch den Grundstein für ein neuerliches Drama.

Mark bleibt dem Leser unsympathisch, denn er nutzt Alexander aus, amüsiert sich über dessen aufrichtige Freundschaft und lässt ihn fallen, als Claudia in sein Leben tritt. Für Alexander ist das ein schwerer Schlag, den er nicht verkraften kann. Hinzu kommt, dass sich Mark weigert, das identische Irezumi bis ins letzte Detail zu vollenden: Die wahre Besonderheit, das ‚unsichtbare Tattoo‘, will er nicht teilen.

Dieses besondere Tattoo und Alexanders Albträume tragen einen Hauch Mystery in den Krimi, der auch ohne diese Elemente funktioniert hätte. Auch das, was nach Gay Romance klingt, ist nicht, was es zu sein scheint, obwohl Schmerz und Lust Hand in Hand gehen. Die Autorin findet eine andere, schlüssige Lösung, durch die die Puzzleteile am Ende des Bandes an den richtigen Platz fallen.

Interessant lesen sich die Ausführungen zur Kunst des Tätowierens, die die Handlung sinnvoll ergänzen, aber nicht überfrachten. Vermieden wird ein Werten, ob Tattoos ein schöner und erstrebenswerter Körperschmuck oder trotz ihrer Beliebtheit in den vergangenen Jahren eine vorübergehende Modeerscheinung bleiben, die sich bloß in bestimmten Kreisen hält. Unterschieden wird zwischen dem konventionellen Tattoo und dem (Ganzkörper-) Kunstwerk Irezumi, das den Titel sowohl für das Studio von Mark wie auch für den ursprünglichen Titel des Buchs – jetzt: „Der Andere“! – stellte.

„Der Andere“ ist ein zeitgenössischer, packender Psychothriller, der mit immer neuen Wendungen überrascht. Am Ende schließt sich der Kreis durch die Rückkehr zu einer Anfangsszene in Verbindung mit einem verblüffenden Finale zu einer rundum gelungenen Geschichte. „Der Andere“ ist ein Pageturner, den man nicht aus der Hand legen möchte, bevor man die letzte Seite umgeblättert hat.