Tim Curran: Zerfleischt (Buch)

Tim Curran
Zerfleischt
(The Devil next Door)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Verena Hacker und Felix F. Frey
Titelillustration von Ben Baldwin
Festa, 2012, Taschenbuch, 410 Seiten, 13,95 EUR, ISBN 978-3-86552-137-8 (auch als eBook erhältlich)

Von Carsten Kuhr

Greenlawn, Indiana. An einem Freitag, der später den Namen Schwarzer Freitag bekommen sollte, beginnt das sonst so mustergültige Vorstadtidyll Risse zu bekommen. Als erstes erwischt es einen Jungen, der Zeitungen austrägt. Zwei Rowdies steigen aus ihrem Pickup und prügeln den Jungen mit ihren Baseballschlägern zu Tode.

Bizarr wird es aber erst, als die Polizei, dein Freund und Helfer am Tatort eintrifft. Statt die Ermittlungen aufzunehmen, trampeln die Beamten auf der Leiche herum. Bald hat das Animalische die ganze Stadt im Griff. Mord, Vergewaltigung und Kannibalismus greifen um sich. Bislang unbescholtene Bürger, Honoratioren der Gemeinde, gehen auf ihre Nächsten los, zerfleischen sie, markieren ihr Revier mit ihren Körpersäften und Ausscheidungen.

Was in Greenlawn beginnt, das zieht in Windeseile um die Welt. Die Menschen verhalten sich wie Tiere, die zivilisatorische Tünche bröckelt nicht, sie verschwindet mit einem Schlag. Ungläubig, gelähmt, dann wider Willen fasziniert betrachten die Menschen, die von der um sich greifenden Verrohung verschont bleiben, den Niedergang der Zivilisation. Statt Moral und Ethik regieren plötzlich Grausamkeit, Mordlust und der Trieb. Hat die Menschheit die kritische Menge überschritten, macht sich ein rezessives Gen, das auch für den Selbstmord der schwärmenden Heuschrecken und Lemminge verantwortlich zeichnet nun auch beim Homo Sapiens bemerkbar? Die Menschen laufen Amok, verlieren ihre Intelligenz und werden zu Bestien reduziert. Was wie ein abgedrehtes B-Movie beginnt, was sich zu einen Alptraum entwickelt, das übt in der Realität eine widerwärtige Anziehungskraft aus, die die Opfer und Gesunden gleichermaßen in ihrem Bann zieht und nicht mehr loslässt…

Was Tim Curran für seine Leser hier bereithält, das ist starker Tobak. Zunächst zeichnet der Autor das in sich überzeugende Idyll einer kleinen Wohlstandssiedlung im Speckgürtel einer der großen US-amerikanischen Städte. Hier, wo sich die begüterten, weißen Familien angesiedelt haben, wo ihre Kinder in die guten Schulen gehen, die Karriere bereits vorgezeichnet ist, schlägt das Grauen dann umso erbarmungsloser zu. Zunächst fassungslos, fast unterkühlt beschreibt der Autor aus Sicht seiner wechselnden Protagonisten die Geschehnisse.

Was als verrücktes, unmotiviertes Verbrechen beginnt, das weitet sich nur zu bald in einen erdrückenden Alptraum aus. Die Beschreibung der Vorgänge bleibt dabei distanziert, schockt aber gerade durch das beschriebene, animalische Verhalten der Täter. Jegliches Gefühl für Gut und Schlecht, jede Moral geht ihnen verloren, sie gebärden sich rein triebgesteuert und hemmungslos. Das nimmt dann oftmals surreale Züge an, kratzt an den Grenzen des guten Geschmacks. Statt voyeuristisch in den Blut- und Gewalttaten zu schwelgen zieht sich Curren aber zunächst geschickt auf eine gewisse Distanz zurück, lässt seine Leser selbst eintauchen und erfahren, was mit den Figuren passiert. Das hat eine Wucht, die den Leser packt und an die Seiten fesselt. Dabei geht es weniger darum, die Exzesse der Gewalt, die Unzucht und Racheakte zu beobachten, sondern mehr darum, erstaunt, ja gefesselt zu beobachten, wie schnell die Moralregeln ad absurdum geführt werden, das Tier in uns alles zum Vorschein kommt.

Später dann richtet Curran seinen Fokus genauer auf das Geschehen. Natürlich provoziert der Autor seine Leser dann ganz bewusst. Kaum ein Tabu, das er nicht bricht, keine verwerfliche, ja undenkbare Tat, die seine rein triebgesteuerten Tiere in Menschenkörper nicht begehen. Da werden Kinder und Säuglinge missbraucht und ermordet, Menschen bei lebendigem Leib gefressen, es wird kopuliert und gemordet. Das alles aber immer eingebettet in die Überlegung, was passieren würde, wenn die menschlichen Schranken zusammenbrechen würden. Was passiert, wenn der Mensch zu dem würde, was ihn einst erst zu seinem unaufhaltsamen Aufstieg verhalf – zum gefährlichsten, weil skrupellosesten Jäger des Tierreichs? Diese Frage beantwortet der Autor auf höchst eigene, eindringliche Weise.

Nichts für schwache Nerven, kein glattgebürsteter Horror, sondern ein Werk voller Kraft und ungezügelter Gewalt für Fans des echten Horrors.