Vertraute Fremde (Comic)

Jiro Taniguchi
Vertraute Fremde
(Harukana-Machi-E, 2005)
Aus dem Japanischen von Claudia Peter
Carlsen, 2007, Paperback mit Klappenbroschur, 410 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-551-7779-9

Von Irene Salzmann

Statt nach Hause fährt der 48jährige Architekt Hiroshi Nakahara im Anschluss an eine Geschäftsreise in jene Stadt, in der er geboren wurde. In den Jahren, die er nicht mehr dort war, hat sich viel verändert. Das Haus, in dem seine Familie einst lebte, wird nun von anderen bewohnt. Auf dem Friedhof besucht er das Grab seiner Mutter und verliert das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich im Körper seines 14jährigen Ichs. Zunächst ist er verwirrt und fragt sich verzweifelt, wie er wieder in seine Zeit zurückgelangen kann, doch bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein Leben von damals ein zweites Mal zu leben. Tatsächlich genießt Hiroshi schon bald seinen jungen Körper, brilliert im Unterricht mit dem Wissen eines gebildeten Erwachsenen, verliebt sich in eine Mitschülerin, die immer unerreichbar für ihn war – und er verwirrt seine Familie, Freunde und Lehrer, weil er sich verändert hat und Dinge weiß, die er eigentlich nicht wissen dürfte. Genau dieses Wissen, was in den kommenden Jahren passieren wird, will er benutzen, um zu verhindern, dass sein Vater die Familie verlässt. Bei kleinen Dingen konnte er bereits Veränderungen bewirken. Gelingt ihm das auch in dieser wichtigen Angelegenheit? Über die Vergangenheit vergisst er ganz seine Frau und die gemeinsamen Kinder in der Gegenwart...

In „Vertraute Fremde“ befasst sich Jiro Taniguchi mit der Frage ‚Was wäre, wenn … man sein Leben noch einmal leben könnte?‘ Würde man dieselben Entscheidungen treffen? Würde man bestimmte Dinge anders machen? Würde man den Lauf der Dinge verändern wollen? Natürlich bräuchte man dazu das Wissen, was geschehen wird. Das behält der Protagonist bei seiner Reise durch die Zeit. Nachdem sich seine Verwunderung und die Angst legten, freut er sich darüber, seine Familie und Freunde wiederzusehen, ein guter Schüler und Sportler zu sein und sich zu verlieben. Sein Umfeld wundert sich über ihn, denn er ist plötzlich sehr viel reifer, seine schulischen Leistungen haben sich deutlich gesteigert, und manchmal redet er von seltsamen Dingen.

Einerseits genießt Hiroshi das Geschenk, noch einmal jung sein zu dürfen, andererseits sieht er voller Sorge jenem Tag entgegen, an dem sein Vater spurlos verschwand. Niemals erfuhr er den Grund dafür, und der Vater tauchte zu Lebzeiten der Mutter auch nicht wieder auf. Folglich beginnt er Nachforschungen anzustellen: War die Ehe seiner Eltern glücklich? Wer ist die mysteriöse Frau, die der Vater regelmäßig in einer Klinik besucht? Was bewog den Vater dazu, statt nach Hause zu kommen, in einen Zug zu steigen und alles hinter sich zu lassen? Hiroshi deckt einige Geheimnisse auf, die ihm helfen, das Geschehene zu verstehen, kann aber letztlich die Vergangenheit nicht verändern. Selbst die kleinen Details, die durch sein Tun anders verliefen, als er es in Erinnerung hat, nehmen letztlich den bekannten Ausgang. Gleichzeitig wird ihm der Spiegel vorgehalten: Er grollte all den Jahren seinem Vater, der die Familie aus heiterem Himmel verließ – und hat er über seine Zeitreise nicht gleichfalls seine Familie der Gegenwart verlassen, vergessen und, das macht ihm ein ‚Traum‘ deutlich, vernachlässigt?

Indem Hiroshi die Parallelen erkennt und vieles mit neuen Augen sieht, bekommt er eine große Chance: Zwar gelang es ihm nicht, die Vergangenheit und damit die Gegenwart zu verändern, doch er kann seinem eigenen Leben, dem des 48jährigen Mannes, eine Wende geben, indem er sich endlich Zeit für die Menschen nimmt, die ihm wichtig sind, und das häusliche Glück, das er als selbstverständlich hinnahm. Am Schluss warten sogar noch zwei kleine Überraschungen auf ihn. Das alles ist eingebettet in das kleinbürgerliche Milieu der frühen 1960er Jahre. Der Mangaka baute zahlreiche Hinweise auf die Ereignisse jener Zeit ein, die die Menschen damals beschäftigten wie die Olympiade in Japan, der Geschwindigkeitsrekord der Shinkansen, die neuen Freiheiten für die Frau, populäre Filme und Künstler etc.

Ebenfalls realistisch und von einem beeindruckenden Reichtum an Details sind die Illustrationen, die die Handlung gelungen ergänzen.

„Vertraute Fremde“ ist ein Gekiga, der sich an ein reifes Publikum wendet, das ernsthafte, seriöse und niveauvolle Unterhaltung wünscht und auch für die Leser westlicher Graphic Novels interessant ist.