Sandman präsentiert: The Dreaming – Durch die Tore aus Horn und Elfenbein (Comic)

William Kiernan, Peter Hogan, Jeff Nicholson
Sandman präsentiert: The Dreaming – Durch die Tore aus Horn und Elfenbein
(The Sandman presents: The Dreaming 15-19,22-25, 1997/1998)
Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Althoff
Titelillustration von Dave McKean
Zeichnungen von Peter Dogerthy, Paul Lee, Jeff Nicholson u.a.
Panini, 2012, Paperback mit Klappenbroschur, 224 Seiten, 24,95 EUR, ISBN 978-3-86201-189-6

Von Frank Drehmel

Nach dem Ende von Neil Gaimans hochgelobter „Sandman“-Serie wäre es einem Sakrileg gleichgekommen, den Hintergrund – The Dreaming, das Träumen – mit all seinen unerzählten Geschichten und Möglichkeiten sowie den hochinteressanten Charakteren einfach brac liegen oder dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Und so nimmt es nicht wunder, dass DC kurz nach dem „Sandman“-Aus „The Dreaming“ aus der Taufe hob, eine Serie, die zwar unmittelbar auf Gaimans phantastischer Ideenwelt basiert, für die jedoch andere Autoren als der vielfach preisgekrönte Engländer verantwortlich zeichneten.

Das vorliegende Tradepaperback enthält die Ausgaben 15 bis 19 sowie 22 bis 25 dieser Serie aus den Jahren 1995 und 1996, fünf Storys beziehungsweise Story-Arcs also, von denen wir uns die beiden zentralen – „Souvenirs“ und „Von Raben und Menschen“ – zunächst genauer ansehen wollen.

In „Souvenirs“ machen sich der von Morpheus neu erschaffene Korinther, jener augenlose Alptraum, der einst dem Träumen entfloh um eine Spur des Grauens durch die Wachwelt zu ziehen, im Auftrag des Bibliothekars Lucien und in Begleitung des Raben Matthew auf in die Welt der Menschen, um die Narben und Wunden, die der Korinther in seiner ersten Inkarnation hinterlassen hat, zu heilen. Dabei fordert ein Mann namens Gabriel die ganze Aufmerksamkeit des fleischgewordenen Traums und des Raben: der erste Korinther nahm ihm einst beide Augen und ließ ihn am Leben. Heute reist der Blinde in Begleitung seines Freundes Echo, eines androgynen Transvestiten, seinerseits durch das Land und ermordet Menschen, um ihnen die Augen zu rauben. Doch wie kann der Korinther als Manifestation eines Alptraums zwei kranke menschliche Seele heilen?

In „Von Raben und Menschen“ erzählt Autorin Kiernan, wie ein uraltes Böses, das von Echo, der die Konfrontation mit dem Korinther aber auch mit Gabriel überlebte, erweckt wird, den Raben Matthew aus seiner Welt und seinen Träumen reißt, einer Welt, die sich um seine Freundschaft – oder ist es Liebe? – zu Eva dreht und in der er in seinen Träumen als Mensch ihre Nähe genießen kann. Als Matthew der Rabe urplötzlich aus ihrer Gegenwart verschwindet, macht sich die alte Mutter auf in die Welt der Wachen, um dort ihren Gefährten, der mittlerweile in der menschlichen Gestalt eines Mannes in der psychiatrischen Abteilung eines Hospitals gefangengehalten wird und in Gefahr schwebt, „sich zu verlieren“, zu suchen. Begleitet wird sie dabei von Lucien, der ebenfalls in der Lage ist, die Gestalt eines Raben einzunehmen. Bevor sich die Beiden jedoch Echo zuwenden, den sie als Urheber des Verschwindens ausgemacht haben, fordert die Eva von den Vögeln der Wachwelt die Begleichung einer alten Schuld.

In drei weiteren Kurzgeschichten lernen wir einen erfolgreichen Manager kennen, der sich nach Befreiung aus seinem grauen und grauenhaften Alltag sehnt und sich in daher in ein Leben träumt, in dem ihm Mervyn, das Faktotum des Träumens, ein verlockendes Angebot macht, wir erfahren, wie die beiden Elfen Nuala und Cluracan einen Neujahrstag verbringen und begleiten Aristeas von Marmora, einen früheren Raben aus Oneiros Gefolgschaft, während eines Jahres seines Lebens als Mensch.

Wer befürchtete, dass „The Dreaming“ kaum mehr als einen schwachen Nachhall der „Sandman“-Serie darstellt – ganz einfach, weil Neil Gaiman die qualitative Messlatte so hoch gelegt hat, dass in den folgenden Jahren einige „Sandman“-Spinoff-Autoren drunter durchgestolpert sind –, wird rasch eines Besseren belehrt. Die fünf Geschichten atmen Geist und Sprache des Originals, auch wenn die beteiligten Autoren popkulturelle, historische oder literarischen Referenzen beziehungsweise Zitationen deutlich zurückhaltender einsetzen als der Schöpfer des Hintergrundes. Dass die Storys, die unterm Strich dunkler, düsterer und weniger märchenhaft als viele der „Sandman“-Geschichten wirken, in der exzellenten psychologischen Ausarbeitung der handelnden Charaktere, der Poesie und Zartheit der Texte, den kritischen Reflexionen oder dem Aufwerfen von philosophischen Fragen dem Original so nahe kommen, mag daran liegen, dass Gainman maßgeblichen Einfluss auf die Auswahl der Storys hatte.

Fazit: Die würdige Fortsetzung der „literarisch“ bedeutendsten US-amerikanischen Comic-Serie der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, welche den Hintergrund einzelner Figuren – aber auch insgesamt – konsequent, anrührend und spannend vertieft, ohne ihn umzuschreiben.