Frank Festa (Hrsg.): Kannibalen (Buch)

Frank Festa (Hrsg.)
Kannibalen
Festa, 2011, Taschenbuch, 314 Seiten, 13,95 EUR, ISBN 978-3-86552-126-2

Von Carsten Kuhr

Die moderne Gesellschaft, gerade in der westlichen Welt, ist krank, verdorben bis aufs Mark. Ich spreche jetzt beileibe nicht von munteren Sexspielchen im Swingerclub, wo ein jeder mit jedem (Sie wissen schon, was ich meine), und auch nicht die hochbezahlten Zocker der Investmentbanken, die ganze Staaten ins Wanken bringen, nur um ihre Boni zu sichern. Ich spreche vom sittlichen und moralischen Verfall, der sich in Perversitäten ungeahnten Ausmaßes äußert.

Snuff-Filme, in denen die feinen Herrschaften live am heimischen Bildschirm dabei sind, wenn ein Mensch umgebracht wird, der Handel mit Kindern und Organen, der ständig wachsende Sumpf von Kinderpornographie und pädophilen Übergriffen. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Nein, da gibt es noch die Gourmets der besonderen Art. Ihnen geht es nicht darum, das letzte überlebende Tier zu jagen und zu verzehren, ihnen mundet eine Art, die es auf unserem Planeten zig millionenfach gibt. Ihnen mundet das Fleisch ihres Nächsten. Ja, Sie haben richtig verstanden, auch wenn es tabuisiert und totgeschwiegen wird, immer häufiger werden Menschen dabei ertappt, ihre Artgenossen zu verzehren.

Nun sollte man meinen, dass insbesondere und gerade die Horror-Autoren sich dieses Themas annehmen würden. Weit gefehlt, wie der Herausgeber in seinem kurzen Vorwort auch darlegt. Es gibt wohl, außer der vorliegenden, keine Anthologie zum Thema, die Geschichten, die man findet, sind rar gestreut. Umso interessanter und beklemmender, wenn dann Meister ihres Fachs sich des Themas annehmen.

Und was Frank Festa da, – in der weit überwiegenden Anzahl als deutsche Erstveröffentlichungen – vorlegt, das kann sich wirklich sehen lassen. Neben den Klassikern E.T.A. Hoffmann, E. A. Poe und H. P. Lovecraft steuern auch solch große Namen wie Robert Bloch, Harlan Ellison oder Graham Masterton Geschichten bei. Zumeist geht es nicht wirklich direkt um Menschenfresser, sondern mehr um die Jagd nach diesen. Der Verzehr des verbotenen Fleisches steht kaum einmal im Zentrum der jeweiligen Handlung – selbst die Autoren, die sich dem Undenkbaren verschrieben haben, scheuen sich ein wenig, den Spotlight auf das Mahl per se zu richten. Trotzdem sind bitterböse Storys ebenso vertreten wie klassische Themen.

Der mir am eindringlichsten erscheinende Beitrag stammt aus der Feder eines mehr als talentierten zeitgenössischen Autors, der bereits bei Festa und im Atlantis Verlag publiziert hat. Tim Curran berichtet in „Maden“ von einem Soldaten Napoleons, der auf dessen Russlandkriegszug, um nicht zu verhungern, gezwungen war, sich am Fleisch seiner Nächsten gütlich zu tun. In die Heimat zurückgekehrt kann er seiner neuen, süchtig machenden Leidenschaft auch gegen seinen Willen nicht abschwören. Etwas in ihm treibt ihn dazu, die Friedhöfe der französischen Hauptstadt heimzusuchen. Eines Tages trifft er dann auf denjenigen, der ihn überredet hat, es mit der verbotenen Kost zu probieren…

Eindringlich, gruselig und atmosphärisch dicht schockt die Geschichte gerade deshalb, weil sie uns einen Täter vorstellt, der gleichzeitig Opfer ist, der innerlich an seinen Taten verzweifelt, aber dennoch nicht ablassen kann vom verbotenen Tun.

Insgesamt eine sehr interessante Zusammenstellung, die sich dem unappetitlichen Thema behutsam annähert, die inhaltlich wie stilistisch überzeugt und für jeden … Geschmack etwas bietet.