Ursula K. Le Guin: Der Tag vor der Revolution (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 06. November 2025 11:42

Ursula K. Le Guin
Der Tag vor der Revolution
25 Science-Fiction-Storys
Übersetzung: Karen Nölle
Tor, 2025, Hardcover, 782 Seiten, 36,00 EUR
Rezension von Gunther Barnewald
Das vorliegende Buch ist eine Original-Anthologie (also hier in Deutschland zusammengestellt) und enthält laut Cover 25 Storys der 2018 verstorbenen Schriftstellerin. Dies stimmt aber nicht ganz, denn neben dem einleitenden Essay (welches vielleicht etwas hochmütig im Ton klingt) sind es noch 26 Erzählungen, von denen allerdings fünf (Seite 298 bis 478) einen Episodenroman bilden, den man ohne Probleme als zusammenhängende Geschichte lesen kann (gleiche Geschehnisse, gleiche Protagonisten, gleiche Zeit in der Zukunft und auch der Ort, nämlich der Planet O, an dem die Handlung zumeist spielt, ist gleich).
Die meisten Erzählung stammen aus der späten Periode der Autorin in den 90er Jahren und erscheinen hier erstmals auf Deutsch. Nur die ersten elf Geschichten und drei spätere sind vor den 90er Jahren geschrieben worden und größtenteils in den beiden Story-Sammlungen (Im Original „The Compass Rose“ und „The Wind´s Twelfe Quarters“) der Autorin, die auch bereits in Deutschland erschienen sind (unter anderem als 2 Bände der „Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur“), veröffentlicht worden.
Deshalb bietet der vorliegende Band wirklich viel neues Material für deutsche Leser, welches bis dato noch nicht in Deutschland veröffentlicht worden war.
Die meisten Erzählungen spielen im gemeinsamen Universum der Hainisch, einer menschenähnlichen raumfahrenden Rasse, deren Zivilisationsgeschichte deutlich länger andauert als die der Menschheit. Neben den Menschen gibt es hier noch die Ceter, die Beldener und andere Rassen, die aber alle recht menschenähnlich sind und wahrscheinlich gemeinsame Vorfahren, wahrscheinlich die Hainisch, aufweisen.
Und so gibt es in zwei Geschichten ein Wiedersehen mit dem Planeten Gethen oder Winter, in dem die Bewohner nach der Geburt erst einmal kein Geschlecht haben. Erst wenn diese geschlechtsreif werden, können sie, immer wieder wechselnd, ein Geschlecht annehmen. So kann ein und der/dieselbe Planetenbewohner(in) sowohl Vater als auch Mutter von Kindern werden (geschildert von der Autorin ausführlich in dem Roman „The Left Hand of Darkness“, dt. „Die linke Hand der Dunkelheit“). Deshalb ist nahezu jeder mal Mann, mal Frau im Laufe seines Lebens, oft sogar mehrfach.
So schildert „Der König von Winter“ die Rückkehr des Königs aus dem Exil und den Kampf um seinen/ihren Thron, während „Volljährig werden in Karhide“ nochmals einen genaueren Blick auf die Lebensumstände der Bewohner und ihre bio-physiologischen und psychologischen Lebensumstände wirft. Alles sehr faszinierend und einfallsreich!
In dem aus fünf Episoden bestehenden „Roman“ (beginnend mit „Die Geschichte der Shobys“ und endend mit „Berglandbräuche“) versuchen Raumfahrer eine Methode zu entwickeln, durch mentale Konzentration Lichtjahre ohne Zeitverlust zu überbrücken (denn bis dahin leiden alle Raumreisenden unter der sogenannten Zeitdilatation, welche bei Reisen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zwar kaum Zeit im Raumschiff vergehen lässt, während im Universum jedoch Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vergehen). Während das erste Experiment fast fehlschlägt, weil zu viele Raumfahrer an Bord sind, deren Psyche sich vermischt, was fast zur Katastrophe führt, sind einzelne Reisende bald erfolgreich und schließlich gelingt es sogar ganzen Kleingruppen, erfolgreich Lichtjahre weit zu reisen, ohne Zeitverlust. Mit „Berglandbräuche“ endet dieser Episodenroman.
Das Ganze erinnert an Jack Finneys Zeitreise-Klassiker „Time and Again“ (dt. als „Das andere Ufer der Zeit“) von 1970, in dem der Protagonist durch reine Konzentration und äußeres Ambiente 100 Jahre in die Vergangenheit reist.
Doch dieser „Episodenroman“ beschäftigt sich nicht nur mit diesem einen Thema, sondern in einigen Erzählungen wird auch deutlich, dass die Bewohner des Planeten O eine etwas andere Art der Ehe leben. Hier sind nämlich immer vier Menschen miteinander verheiratet, von denen aber jeweils zwei Paare (nämlich das sogenannte Morgenpaar und auch das sogenannte Abendpaar; jeweils ein Mann und eine Frau) keine sexuelle Beziehung führen dürfen. Die anderen Beziehungen sind jedoch erwünscht und haben sogar eigene Namen, so dass jede Person des Quintetts eine heterosexuelle Beziehung und eine homosexuelle Beziehung pflegt. Ausführlich beschreibt die Autorin die Auswirkungen dieser (aus unserer Sicht) seltsamen Konstellation. In „Berglandbräuche“ geht es dann darum, dass in ländlichen Gegenden oft eine vierte Person fehlt, um eine Ehe zu komplettieren.
In den Episoden zeigt sich wieder Le Guins größte Stärke, die Beschreibung menschlichen Zusammenlebens unter außerordentlicher Berücksichtigung exotischer Komponenten (auch Sexualität klammert die Autorin hier nicht aus, genauso wie Fragen des Geschlechts, Gendern oder auch von Macht und Machtmissbrauch; sehr oft Thema bei Le Guin). Und mit den verschiedenen Namen für die verschiedenen Ehe-Konstellationen (siehe Seite 447) erinnert die Autorin fast an den Schriftsteller-Kollegen Jack Vance, der genau diese Exotik wie kaum ein zweiter beherrschte und dem Lesenden das Gefühl gibt, dies sei alles real und echt (irgendwo).
Die vielleicht stärkste Geschichte ist jedoch „Weiter als Weltenreiche und langsamer“, die zu einer Zeit spielt, als Raumschiffe für die Außenstehenden noch Jahrzehnte unterwegs sind, um fremde Planeten zu erforschen. Deshalb wird keiner der Forscher jemals zu seiner Familie oder seinen Angehörigen zurückkehren können, da diese bis zu ihrer Rückkehr alle verstorben sein werden (auch wenn für die Reisenden durch das Zeitdilatation genannte Phänomen erst wenig Zeit vergangen ist). Deshalb begeben sich nur besonders isoliert denkende und fühlende oder menschenfeindliche Personen auf diese fernen Reisen. Gleich am Anfang der Erzählung benennt die Autorin jeden einzelnen der Raumschiff-Besatzung als „psychisch gestört“. Denn nur dies löse den Willen bei einem Raumfahrenden aus, alle sozialen Beziehungen für immer hinter sich zu lassen, so Le Guin. Und der verrückteste unter ihnen ist Mister Osden (dem sogar ein Vorname fehlt; zumindest billigt ihm die Autorin keinen zu, um zu zeigen, dass er sogar Außenseiter unter den durchgeknalltesten Außenseitern ist!), ein scheinbar geheilter Autist, der aber als Empath fähig ist, die Gefühle aller anderen zu lesen, die ihn deshalb fürchten wie die Pest und ablehnen. Der entdeckte Planet, auf dem nur Pflanzen existieren und scheinbar keinerlei tierisches Leben, macht alles nur noch schlimmer, denn als sich bewegende Schatten gesehen werden und Osden niedergeschlagen wird, stellt sich schnell die Frage: Haben die Forschenden etwas übersehen, sind sie selbst bald Opfer einer dortigen Gefahr oder sind sie sich selbst die größte Gefahr…?
Eine gnadenlos spannende Geschichte, genial erdacht und unglaublich prägnant erzählt. Atmosphäre, Charaktere und Plot sind hier einfach nur von exquisiter Qualität!
Ebenfalls sehr gut ist die Erzählung „Neun Leben“. Die Story handelt von einer Crew von neun Klonen, die schon immer zusammenlebten und arbeiteten. Bei einem Unfall auf einem fremden Planeten werden jedoch acht von ihnen getötet. Und da zeigt sich, dass der eine überlebende Klon kaum überlebensfähig zu sein scheint, da er sich nie abnabeln konnte von den anderen. Fast zerbricht ihn die Einsamkeit, während die anderen Menschen auf dem Planeten verzweifelt versuchen, ihm das Leben zu retten und ihm einen neuen Sinn im Leben und Kraft zum Überleben zu geben...
Auch dies eine „ältere“ Geschichte von 1969.
Interessant sind jedoch auch die Welt-Entwürfe, welche die Autorin in den 90er Jahren schrieb und die hier im hinteren Teil des Buches gesammelt sind. Oft sind die Texte etwas länger (also Novellen von bis zu 80 Seiten), meist noch nicht auf Deutsch erschienen und schildern oft das Leben in archaisch wirkenden Kulturen, in denen mal die Männer die Frauen brutal unterdrücken („Wunschphantasien“, „Die Befreiung einer Frau“), manchmal auch die Frauen die Männer („Der Fall Seggi“) oder sich die Menschen einfach gegenseitig durch Ausbeutung und Sklaverei wirklich schlimme Dinge antun („Tag der Vergebung“ und ebenfalls „Die Befreiung einer Frau“).
In „Der Fall Seggi“ entstehen bei den Bewohnern eines fremden Planeten bei der Fortpflanzung fast nur weibliche Kinder. Bei den wenigen männlichen Nachkommen herrscht zudem eine hohe Sterblichkeitsrate, so dass alle erwachsenen Männer in großen Gebäuden gefangengehalten werden, um der Fortpflanzung zu dienen, und dies ihr Leben lang. Was die Männer sich in diesen „Gefängnissen“ gegenseitig antun, ist wiederum nur allzu grausam und widerwärtig, während die Frauen in Freiheit ein recht ruhiges, angenehmes, entspanntes und harmonisches Leben führen. Erst spätere genetische Eingriffe lockern die traumatisierende Situation etwas auf und nur sehr langsam verändern sich die brutalen gesellschaftlichen Muster. Eine wahrlich herbe Erzählung.
Und während „Der erste Kontakt mit den Gorgoniden“ eine gallige Satire auf männliche Dummheit im Angesicht eines Alien-Kontakts ist, dreht sich eine andere Geschichte („Der Tag der Revolution“) um eine ältere Revolutionärin, die das Glück (oder Unglück) hatte, die von ihr initiierte Revolution zu überleben und nun zurückblickt oder um die Sinnhaftigkeit von Namensgebungen („Sie entnamt sie“).
Insgesamt ist die vorliegende Original-Anthologie nicht nur die Werkschau einer begnadeten Schriftstellerin, sondern auch ein Meisterwerk, ein wahrer Steinbruch toller Ideen, von interessanten Charakteren und wunderbar geschilderten Atmosphären.
Und während Action und Spannung meist eher nicht im Mittelpunkt der Erzählungen stehen, so besticht Le Guin durch brillanten Stil (sehr gut eingefangen und übersetzt von Karen Nölle) und faszinierende Gesellschaftsentwürfe, die den Leser zum Nachdenken anregen.
Eine leichte, wohlgefällige Lektüre ist das vorliegende Buch aber nicht, denn während einige der kürzeren Texte nicht so recht erzählerisch überzeugen, sind die längeren oft sehr komplex und fordern schon einiges an Gehirnschmalz vom Lesenden.
Wer sich aber nicht einfach nur oberflächlich unterhalten lassen will oder in schlecht erschaffene, klischeehafte Welten abtauchen will, der sollte diesem dicken Wälzer, trotz seiner fast 800 Seiten, eine Chance geben.
Wer literarisches und inhaltliches Niveau mag, der wird dieses Meisterwerk lieben!