Susanne Picard: Die Leichen des jungen Werther (Buch)

Susanne Picard
Die Leichen des jungen Werther
Titelbild und Illustrationen von Jürgen Speh
Panini, 2011, Paperback mit Klappenbroschur, 284 Seiten, 12,95 EUR, ISBN 978-3-8332-2256-6

Von Christel Scheja

Zombies sind im Trend. Vor allem wenn sie plötzlich dazu dienen, um Klassiker, die man sonst allenfalls noch im Literaturunterricht liest, aufzupolieren und auf den Kopf zu stellen. Die Engländer haben es mit Jane Austen vorgemacht, nun ziehen die Deutschen nach. Susanne Picard, die erst als Redakteurin im Wirtschaftsbereich arbeitete und seit 2007 als freiberufliche Übersetzerin, Lektorin und Schriftstellerin arbeitet, hat sich dazu den Roman ausgesucht, der die tragische Romantik der „Sturm und Drang“-Klassiker wie kein anderer verkörpert: „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe.

In Briefen schildert der junge Werther seinem Freund Wilhelm, wie es ihm ergeht, als er sein Jura-Studium in Weimar abbrechen muss, um im beschaulichen Landstädtchen Waldheim, die Praxis zu lernen. Sein Onkel möchte nämlich vermeiden, dass er durch seine Liebe zu der zarten und stillen Tochter des Kammerrates der Herzogin Therese von Wetterfeld auch noch einen Skandal verursacht. Der junge Mann soll sich in der Provinz abkühlen und zur Besinnung kommen, ehe er sich vergisst. Doch Werther ist verzweifelt. Gefangen zwischen langweiliger Arbeit und einer Unterkunft, die von einer schroffen Pensionswirtin überwacht wird, weiß er nicht mehr ein und aus, verzehrt sich geradezu in Liebe nach dem in seinen Augen entzückenden Geschöpf, das für ihn die wahre Weiblichkeit ausmacht. Dennoch lehnt er die Avancen der leidenschaftlichen Witwe Bach nicht ab, als diese deutlich macht, dass sie gegen das ein oder andere Stelldichein nichts hätte.

Dann tritt die junge Lotte in sein Leben. Auch sie fasziniert ihn durch ihre zarte und stille Weiblichkeit, obwohl sie einen bleichen, fast gründlichen Teint und einige seltsame Angewohnheiten hat, die eigentlich nicht zu einer jungen Frau passen. Er beginnt ihre Nähe zu suchen und verschließt seine Augen erst einmal vor den offensichtlichen Hinweisen, dass er längst unter Wesen geraten ist, die ein vernunftbegabter Mensch normalerweise als abergläubische Hirngespinste bezeichnen sollte.

Ob es Johann Wolfgang von Goethe gefallen würde, was mit seinem Meisterwerk angestellt wurde, sei dahingestellt – Tatsache ist, dass die Autorin viel von seinem Stil zu bewahren versucht und ihre eigenen Ideen sehr behutsam einarbeitet. Zunächst sind die Veränderungen nur sehr behutsam, der Fokus liegt stark auf den Seelenqualen des jungen Werther, der sich so sehr missverstanden und von allen – vor allem Onkel und Freund verraten fühlt – weil man ihn in die Provinz geschickt hat, in der ihn genau die Zwänge erwarten, denen er geglaubt hat, als Student entfliehen zu können. Dann, nach und nach, schleicht sich der Horror durch makabere Beschreibungen ein. Jeder Leser wird leicht erkennen, dass ausgerechnet die Frauen, die sich Werther zur Liebe ausgesucht hat, nicht mehr ganz menschlich – vielleicht auch nicht mehr lebendig sind.

Allerdings endet die Geschichte anders als erwartet. Das mag auch an der Einbindung eines gewissen Baron Frankenstein liegen, der seine ganz eigenen Ansichten in Bezug auf Tod und Leben hat. Wirklich eklig, blutig oder dramatisch wird es nicht, auch wenn die Autorin hin und wieder klare Worte spricht. Aber sie wahrt von Anfang bis den Sprachstil und die Atmosphäre des Originals. Dieser mag auf heutige Leser antiquiert und schwülstig wirken, gibt aber viel von dem Denken und Fühlen des ausgehenden 18. Jahrhundert wieder, in dem Wissenschaft und Vernunft regieren, aber auch durch eine neue Generation von Dichtern Gefühle erstmals klar in Worte gefasst und Menschen – zumindest Männer – als eigenverantwortliche Individuen gesehen werden.

Alles in allem funktioniert „Die Leichen des jungen Werther“ sehr gut – einmal als schräges Werk der modernen Schauerliteratur im Zeichen der Zombies, dann auch als Beweis, das Klassiker durchaus ihren Reiz haben können und nicht nur immer langweilig oder gar dröge sein müssen. Allerdings sollte man schon ein Auge zudrücken, wenn man die deutsche Literatur schätzt, denn sicherlich geht die eigentliche Aussage des Werkes durch die Veränderungen unter, und einige Veränderungen sind doch recht dreist.

Als äußere Hommage an Goethes Werk und unzählige andere Schullektüren ist das Cover bewusst im Stil der Reclam-Hefte gehalten, die mehr als eine Generation durch die Deutschstunden begleitet hat. „Die Leichen des jungen Werther“ dürften damit vor allem all jenen gefallen, die schon an den Umgestaltungen von Jane Austens Werken wie „Stolz und Vorurteil und Zombies“ ihren Spaß hatten.