Melissa Fairchild: Himmelsauge – Die Geheimnisse des Brückenorakels 1 (Buch)

Melissa Fairchild
Himmelsauge
Die Geheimnisse des Brückenorakels 1
(A Shadow’s Touch, 2009)
Aus dem Englischen von Karin Duffner
Pan, 2009, Hardcover, 384 Seiten, 14,95 EUR, ISBN 978-3-426-28312-7

Von Alexandra Balzer

Ein Junge erwacht in einem Krankenhaus. Er weiß nicht, wer er ist, woher er kommt, was mit ihm geschehen ist. Er hat schwere Verletzungen, und er wird von Ärzten und Krankenschwestern sehr merkwürdig, wenn auch nicht unfreundlich, behandelt.

Im Laufe der nächsten Tage heilen seine Wunden in wahnwitziger Geschwindigkeit. Dazu wird der Junge ständig von einem seltsamen buckligen Mann in Hausmeisterkittel besucht. Er reißt Witze, die eher bedrohlich klingen, und weder Patienten noch Pflegepersonal scheinen ihn je zu bemerken. Immerhin verrät er dem Jungen, dass dieser womöglich Selbstmord begehen wollte, indem er vor eine U-Bahn gesprungen ist. Niemand vermag sich zu erklären, wie der Junge das überleben konnte. Wirklich unheimlich wird es, als der Junge eines Abends Nachrichten im Fernsehen sieht und der Sprecher sich plötzlich an ihn persönlich wendet. Dieser Mann befiehlt dem Jungen, sofort zu fliehen, ein Mann namens Kellen wäre ihm dicht auf den Fersen. Er nennt den Jungen Avi und verspricht, ihn so rasch wie möglich zu holen.

Avi kämpft noch gegen seine Verwirrung, als bereits ein monströses, gerade noch menschenähnliches Wesen zu ihm kommt und ihn fortschaffen will. Nur mit Mühe gelingt es Avi, in einem Rollstuhl zu fliehen. Sämtliche Menschen um ihn herum scheinen zu Statuen erstarrt zu sein, niemand kann ihm helfen – erst im letzten Augenblick rast ein Taxi heran. Es wird von dem ‚Nachrichtensprecher‘ gesteuert. Sein Name ist Durin, er gibt sich als Wächter und Avis Beschützer zu erkennen. In diesem Taxi befindet sich allerdings auch ein Mädchen, das im Laufe der hektischen Flucht vor Kellen aus der rätselhaften Starre erwacht. Durin überlebt die Flucht nicht; er schafft es gerade noch, Avi zu sagen, wo er den nächsten Wächter finden kann und warnt ihn, auf keinen Fall in die andere Welt zu gehen, bevor das Orakel dies zulässt.

Inmitten von London, einer Großstadt, in der Avi alles fremd ist, verlassen von seinem Beschützer und seinen Erinnerungen, mit nichts als einem Krankenhausnachthemd und einem viel zu langen Mantel am Leib, ist er auf die Hilfe von Hannah angewiesen, seiner unfreiwilligen Mitfahrerin. Mit ihr kämpft er gegen Kellen und dessen Kundschafter, die überall zu lauern scheinen, findet Hilfe in Gestalt einer zickigen Wahrheitselfe und eines hochgradig exzentrischen dicken Mannes, der zum Glück mehr Talente besitzt als nur Shakespeare zu rezitieren; er reist durch die Zeit, bestiehlt die Erinnerungsmuse und landet schließlich in seiner Heimatwelt: Das Feenreich, dessen Königin seine Mutter ist. Doch das war noch lange nicht alles …

Dieses Buch lebt von originellen Ideen, mitreißender Sprache, Action und einigen gut gelungenen Charakteren. Avi wie auch Hannah sind sehr sympathisch, ihre Ängste sind gut dargestellt, und ihre Hilflosigkeit in Gefahrensituationen wirkt erfrischend realistisch. Brucie, die Elfe, die niemals lügen kann und dadurch auch Wahrheiten ausspricht die keiner hören will, sorgt für Humor und den notwendigen Ausgleich zu all den düsteren und gruseligen Ereignissen. Auch Roosevelt, der luxusverwöhnte Wächter mit seinen omnipotenten Visitenkarten, ist eine herrliche Figur, genauso Fugit, der Herrscher über die Zeit, von dessen Gemütslage abhängt, wie schnell oder langsam die Zeit auf Erden verläuft.

Der Plot ist spannend, das Ende zufriedenstellend und in sich geschlossen, sogar ein wenig Romantik findet sich zwischen den Zeilen. Darum ist es schade, dass die Autorin häufig die Gefühle ihrer Helden nicht ausreichend vertieft, so dass man nicht wirklich mit ihnen fühlen oder leiden kann. Avis Trauer über Durins Tod kommt noch sehr berührend herüber. Doch der Schock auf all die Gewalt und unerklärlichen Geschehnisse fällt ebenso zu kurz aus wie die Annäherung zu Hannah. Plötzlich ist da starke Zuneigung, die vor allem von Hannahs Seite aus nicht konkret erklärlich ist. Auch werden manche Details nicht erklärt, wie etwa die Motive des buckligen Witzereißers aus dem Krankenhaus. Dieser entpuppt sich als ein Bruder von Brucie – soweit, so gut. Warum hat er Avi mehrmals gesagt, dass dieser seine Tabletten weglassen soll, statt ihm wirklich zu helfen? Wenn Durin via Fernsehen zu Avi sprechen konnte, was hat ihn so lange abgehalten, den Jungen zu retten? Warum legt man einen schwerverletzten Jugendlichen, der einen Zusammenstoß mit einer U-Bahn überlebte, auf eine Station mit mindestens einem halben Dutzend anderer Patienten, wenn nicht noch mehr? Woran konnte man erkennen, dass seine Knochenbrüche verheilt sind, während er noch an Armen und Beinen eingegipst war?

Es gibt viele kleine Logikfehler, die den Lesegenuss stören können – aber keineswegs müssen. Wenn man sich von der Handlung mitreißen lässt, fällt all dieser Kleinkram nicht weiter ins Gewicht. Für jugendliche Leser ab etwa 12 Jahren ist das Buch uneingeschränkt empfehlenswert, aber auch für ältere Leser bietet es spannende Unterhaltung.