S. F. Williamson: Die Sprache der Drachen (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 12. Juni 2025 07:38

S. F. Williamson
Die Sprache der Drachen
(The Language of Dragons, 2025)
Übersetzung; Nina Lieke
Heyne, 2025, Hardcover, 512 Seiten, 24,00 EUR
Rezension von Carsten Kuhr
Willkommen in einem London, das seit fünf Jahren - nach einem verlustreichen, verlorenen Krieg - in einem brüchigen Frieden mit den Drachen existiert. Dank der damals geschlossenen Friedensvereinbarung wissen alle Parteien genau, wie sie sich zu verhalten haben, was erlaubt ist und was nicht.
Die Menschen wurden in drei Klassen eingeteilt: die Herrschenden in Klasse Eins, herausgehobene Wissenschaftler und Büttel in Klasse Zwei und der rechtlose Rest in Klasse Drei. Jeder lebt selbstverständlich in seinem eigenen Viertel und versucht verzweifelt, nur ja nicht nach unten abzurutschen.
In dieser Welt lernen wir die 17jährige Vivian Featherswallow kennen. Ihre Eltern gehören zur zweiten Schicht der Akademiker, sie selbst hat drei Menschensprachen und - sage und schreibe - sechs Drachensprachen gelernt!
Eines Abends dringen die Wächter in ihr Heim ein und verhaften ihre Eltern, den Onkel und ihren volljährigen Cousin wegen Verrats. Vivian ist geschockt, versteht die Welt nicht mehr und kann kaum glauben, geschweige denn akzeptieren, dass ausgerechnet ihre Vorzeigefamilie Verräter sein soll. Sie bringt ihre jüngere Schwester bei Freunden unter und fasst einen waghalsigen Plan: Sie befreit einen gefangenen Rebellen-Drachen und lässt diesen kurzerhand die Downing Street 10 samt sämtlicher dort lagernder Beweise für den angeblichen Verrat ihrer Eltern niederbrennen.
Dumm nur, dass sie erwischt wird. Die Premierministerin macht ihr ein Angebot: Vivian soll - ausgerechnet mit ihrer einst besten Freundin, die sie verraten hat - innerhalb von drei Monaten den Drachen-Code entschlüsseln. Gelingt es, kommen ihre Eltern frei - misslingt es, erwartet alle der Strick…
S. F. Williamson hat Französisch und Italienisch studiert und übersetzt aus diesen Sprachen selbst ins Englische - soll heißen: Wenn sie über Sprachen und Übertragungen schreibt, weiß sie, wovon sie redet.
Dies vorausgeschickt zum vorliegenden Roman, in dem sich Vieles um Drachen, aber auch um Sprachen und natürlich deren Übersetzung dreht.
Wir finden uns in einer Welt wieder, die unschwer als das London nach dem Ersten Weltkrieg, etwa 1923, zu erkennen ist - allerdings in einer Version, in der die Menschen gegen die Drachen zu Felde zogen und die Auseinandersetzung gegen die geflügelten, feuerspeienden Lindwürmer verloren.
Vivian wurde von ihren Eltern Zeit ihres Lebens darauf eingeschworen, bloß nicht aufzufallen, sich unauffällig innerhalb des Systems zu verhalten und den Abstieg in die dritte Klasse zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sie viel geopfert: Sie hat einen Jungen an sich herumfummeln lassen und ihre beste Freundin verraten - nur um als eine der Besten abzuschließen. Das verleiht der Handlung bedrückende Dystopie-Vibes, auch und gerade, weil es so realistisch wirkt. Auffällig dabei ist, dass Vivian uns nicht immer als sympathische Handlungsträgerin präsentiert wird. Sie biedert sich an, ist ehrgeizig bis hin zur Selbstaufgabe, dabei aber auch gerissen, ja skrupellos - das bekommt ausgerechnet ihre beste Freundin zu spüren, die auf Vivians Betreiben ihren Status verliert und in die dritte Klasse abgeschoben wird.
Zunächst begegnet uns also eine Heranwachsende, fast noch ein Kind, die auf Anweisung der Eltern ihre eigene Moral ausgeschaltet und sich dem System gebeugt hat. Sie wirft ihre Skrupel über Bord und schreckt vor Verrat der niederträchtigsten Sorte nicht zurück. Dann der Schock, als sich ausgerechnet ihre Eltern als Rebellen erweisen. Plötzlich verliert das Mädchen jeden Halt und jegliches Vertrauen.
Danach geht es nach Bletchley Park, um die Geheimnisse der Drachensprache zu entschlüsseln - eine Aufgabe, die zunächst machbar erscheint, sich dann aber als weitaus schwieriger erweist. Dort muss sich unsere Protagonistin zunächst zurechtfinden, ihren Platz suchen und sichern. Immer wieder taucht dabei das Thema Sicherheit auf. Vivian soll ihren Platz im Machtgefüge der neuen Welt unter dem Edikt mit den Drachen behaupten und sich an einem unbekannten Ort unter unbekannten Regeln durchsetzen. Und es kommt zum unverhofften Wiedersehen mit der Freundin, die sie gnadenlos abgesägt hat. Zwar bereut Vivian ihr Verhalten, doch so recht nimmt man ihr die Betroffenheit nicht ab - zu sehr steht sie selbst im Zentrum ihres Handelns. Hier muss sie ihre Einstellung überdenken, ihr Handeln kritisch hinterfragen und sich letztlich ändern. Diese schwierige Entwicklung hat Williamson nachvollziehbar aufgearbeitet.
Als es dann, wie erwartet, zum nächsten Krieg kommt, steigt die Dramatik für unsere rekrutierten Teenager noch einmal deutlich an. Erwähnenswert bleibt ferner, dass die Autorin ihre Drachen glaubhaft als eigenständige, intelligente Wesen porträtiert.
Uns erwartet also ein untypischer Drachen-Roman ohne große Love Story. Im Mittelpunkt steht eine dystopische Zukunft, in der intelligente Drachen mit den Nachkommen der Affen um die Vorherrschaft in einem gemeinsamen Lebensraum ringen. Erzählt aus der Sicht Heranwachsender, ist der Roman ideal auf die Zielgruppe - Jugendliche und junge Erwachsene - zugeschnitten, worauf auch der Rundum-Farbschnitt verweist. Immerhin versucht Heyne hier einmal nicht, die ewig gleichen Dark-Academia-Plots zu recyceln, sondern eigene Wege zu gehen - möge der Autorin und dem Verlag dabei Erfolg beschieden sein.