Freja Lind: Mein erstes Mal (Buch)

Freja Lind
Mein erstes Mal
Blue Panther Books, 2023, Taschenbuch, 184 Seiten, 12,90 EUR

Rezension von Irene Salzmann

Das Abi ist bestanden, die Eltern sind außer Haus. Führerschein-Neuling Roy fährt mit dem Kleinwagen seiner Mutter zu einer Party mit Leuten, die er eigentlich nicht mag, nur um seine Mitschülerin Jenny zu treffen, in die er seit Kurzem verknallt ist. Der Abend verläuft besser, als er zu hoffen wagte: sein erstes Mal! Nachdem Roy Jenny zu Hause abgeliefert hat, kommt er mit dem Wagen von der Straße ab und verletzt sich so schwer, dass er in ein künstliches Koma versetzt wird.

Endlich wieder fit realisiert der junge Mann seinen Traum, Arizona zu erkunden, erleidet jedoch mit seinem alten Chevie eine Panne und muss notgedrungen einige Tage in einem heruntergekommenen Motel verbringen, bis dessen Besitzer die notwendigen Ersatzteile beschaffen und einbauen kann. Die Zeit versüßen ihm dessen Tochter Samantha, eine Studentin, die gelegentlich im Motel aushilft, die in einem Camper wohnende Schriftstellerin Simona und ein anderer Gast namens Liz. Ein hässlicher Zwischenfall veranlasst das Quartett, gemeinsam im Camper die Flucht zu ergreifen.

Unvermittelt kommt Roy in einem Krankenhausbett zu sich, umringt von Klinikpersonal, die ausnahmslos so aussehen wie all jene, die er in Arizona kennengelernt hat, einschließlich einer weiteren Person, Jenny, die zwölf Jahre darauf gewartet hat, dass ihre erste große Liebe aus dem Koma erwacht. Er zieht bei ihr ein und versucht, sich in einer für ihn neuen Welt zurechtzufinden.

Auch „Mein erstes Mal“ holen die beiden nach, denn Roy kann sich nicht mehr erinnern und rätselt, wie weit sie damals gekommen sind und ob es, was sehr wahrscheinlich ist, in all den Jahren andere Männer für Jenny gegeben hat.

Jedoch sind es weniger Eifersucht und Misstrauen, die zunehmend für Probleme sorgen, als die Träume von Arizona, die so realistisch sind, dass sich Roy zu fragen beginnt, welches Leben seine Wirklichkeit ist. Die Situation eskaliert und zwingt ihn, Jenny endlich von seinen Zweifeln und seinem Pendeln zwischen zwei möglichen Realitäten zu berichten. Sie beschließen, gemeinsam in die USA zu fliegen, um nach Beweisen dafür zu suchen, dass Roy sich abwechselnd an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Zeiten aufhält.

Was sie finden, verblüfft beide. Doch das ist längst nicht alles: Es gibt eine neuerliche Überraschung - und ist damit wirklich Roys Welt wieder in Ordnung?


Da man von Freja Lind gewohnt ist, dass sie ihre erotischen Romane mit ungewöhnlichen Hintergrund-Ideen, gern auch mit anderen Genres verknüpft, heben sich diese Titel wohltuend vom „Bums-Einerlei“ ab. Infolgedessen fragt man sich vor der Lektüre, was sie sich wohl für „Mein erstes Mal“ hat einfallen lassen, um die Leserschaft über rund 180 Seiten bei der Stange zu halten. Der Text auf dem Backcover, der den Plot nur grob skizziert, klingt mäßig spannend: Hält Freundin zu Unfallopfer im Koma, sind die heißen Szenen (Vanilla-Sex, Oral, flotter Fünfer) Realität oder Traum?

Die ersten Seiten erinnern an diverse Teenie-Serien, die zwischen Shoppen und Schul-Intrigen stets um das First-Love-Thema kreisen. Dass es sich keineswegs bei der Hauptfigur um eine lesbische Erzählerin handelt, merkt man spätestens, als der Name Roy fällt. Lässt man sich von diesem Start nicht abschrecken, wird man bald belohnt, denn die Autorin hält sich nicht lange mit dem Kiddie-Kram auf und lebt sich immer besser in ihre Hauptfigur ein, gestaltet sie von Seite zu Seite überzeugender und durch ihre inneren Konflikte interessanter.

Die weiblichen Bekanntschaften verkörpern unterschiedliche Frauen-Typen mit individuellen Vorzügen. Sie versüßen Roy und einander auf nicht zu derbe Weise die Mußestunden. Indem sie nicht konkurrieren, schaffen sie für ihn geradezu paradiesische Zustände: Sie bilden einen Zirkel, in dem jeder für jeden da ist und dessen Bedürfnisse befriedigt. Damit wird der Anspruch von Verlag und Leserschaft auf erotische Inhalte rundum und abwechslungsreich abgedeckt.

Viel interessanter ist jedoch ‚des Pudels wahrer Kern‘: Roy wird in die Rolle des chinesischen Philosophen und Dichters Zhuang Zhou (auch: Zhuang Zi/Meister Zhuang, ca. 365 bis 290 v. Chr.) versetzt, der so intensiv träumte, ein Schmetterling zu sein, dass er nach dem Erwachen seine Realität in Frage stellte, ob er nicht womöglich ein Schmetterling sei, der träumt Zhuang Zhou zu sein. Freilich werden die zugrundeliegenden Aspekte dieses Gleichnisses zum fortwährenden Wandel der Dinge in der Romanhandlung nicht weiter ausgeführt, doch wird Roy in die Rolle eines Träumers versetzt, der immer weniger unterscheiden kann, welches seine wahre Realität ist, falls es sie überhaupt gibt, denn sobald er glaubt, des Rätsels Lösung näherzukommen, passiert etwas, was sämtliche Überlegungen, auch die des Publikums, ad absurdum führt.

Daraus bezieht die Geschichte ihre Spannung und wäre durchaus ohne beziehungsweise mit weniger schmückendem Erotik-Beiwerk ausgekommen. Es gelingt der Autorin, eine bedrückende Atmosphäre aufzubauen, die unverhofft eine Steigerung erfährt, wenn die Erklärung zum Greifen nahe scheint und man bereits erleichtert aufatmen möchte, aber eine plötzliche Wendung die verzweifelte Suche nach der Wahrheit erneut in Gang setzt.

Sprach- und stilsicher fängt Freja Lind ihre Leser durch reichlich Dramatik und Überraschungsmoment ein, sodass man „Mein erstes Mal“ gebannt bis zum Schluss verfolgt. Einmal mehr stellt sie mit diesem Titel unter Beweis, dass sie immer wieder für etwas Neues, das man so nicht erwartet hätte, gut ist.