Boy Missing (DVD)

Boy Missing
E 2016, Regie: Mar Targarona, mit Blanca Portillo, Antonio Dechent, Vicente Romero u.a.

Rezension von Elmar Huber

Ein Junge in Schuluniform geht verstört und blutbefleckt eine Allee entlang. Ein Autofahrer hält an und bringt Victor (Marc Domènech), den Sohn der erfolgreichen Anwältin Patricia de Lucas (Blanca Portillo), in ein Krankenhaus. Laut seiner Aussage wurde er von einem Mann in Gärtneruniform aus dem Schulhof entführt, konnte aber aus seinem Gefängnis fliehen.

Anhand eines Phantombilds ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Carlos „Charlie“ Coronas (Andrés Herrera), dem seine Frau zwar ein Alibi gibt, der aber in Wahrheit nicht zu Hause war. Patricia ist von der Schuld des Mannes überzeugt und bittet einen alten Freund mit entsprechenden Kontakten, diesem eine Lektion zu erteilen. Die Aktion läuft gehörig aus dem Ruder und wird damit zum Auftakt einer Ereigniskette, die der Anwältin zusehends aus den Händen gleitet.

 

Nach „Julias Eyes“, „The Body“ und „Der unsichtbare Gast“, für die er als Drehbuch-Autor und/oder Regisseur verantwortlich war, setzt der spanischen Thriller-Spezialist Oriol Paolo mit „Boy Missing“ seine Serie wendungsreicher Thriller fort, die den Zuschauer ein ums andere Mal clever aufs Glatteis führen.

Auch hier ist nicht alles, wie es auf den ersten Blick scheint. Relativ schnell revidiert Victor seine Anschuldigung gegen den Gärtner, doch hat Patricia da bereits eine Maschinerie in Gang gesetzt, die ein verhängnisvolles Eigenleben entwickelt. Die Anwältin bewegt sich plötzlich selbst in einer Grauzone und kann von ihrem ursprünglichen Kurs nicht mehr abweichen, der sich immer mehr von der Wahrheit und ebenso von einem moralisch vertretbaren Weg entfernt.

Ungewöhnlich ist die eingehende Beschäftigung mit der „Gegenseite“, die das Drama noch intensiviert. Sowohl der vermeintliche Entführer Charlie als auch dessen verzweifelte Frau (Macarena Gomez, die in „Shrew’s Nest“ noch die labile Montse gespielt hat) werden eindringlich charakterisiert und ebenfalls in ein moralisches Dilemma gepresst, sodass man als Zuschauer auch hier Mitgefühl entwickelt.

Garniert wird der Thriller mit zumindest einer Hitchcock’schen Suspense-Szene, in der Patricia in Anwesenheit der Polizei ein offensichtlich verräterisches Päckchen erhält und dies möglichst unauffällig „jonglieren“ muss, um keinen Verdacht zu erregen. Auch das Ende entwickelt sich Paolo-typisch wieder mit Überraschungseffekt, den man so nicht kommen sieht, der aber auch nicht aufgesetzt wirkt.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler liefern durch die Bank hervorragende Leistungen und bringen ihre Figuren lebensecht auf den Bildschirm. Regisseurin Mar Targarona ist vorwiegend als Produzentin tätig, liefert aber auch hinter der Kamera einen souveränen Job ab.

„Boy Missing“ ist ein trickreicher Thriller mit ungewöhnlich eingehenden Charakterisierungen und diversen Hitchcock-Anleihen.