Kai Meyer: Die Bibliothek im Nebel (Buch)

Kai Meyer
Die Bibliothek im Nebel
Knaur, 2023, Hardcover, 556 Seiten, 24,00 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Laut Klappentext kehrt Autor Kai Meyer in „Die Bibliothek im Nebel“ in das berühmte Graphische Viertel der Stadt Leipzig zurück, welches im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, ähnlich wie er dies in seinem Meisterwerk „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ bereits im letzten Jahr erstmals tat (also dieses Stadtviertel in den Mittelpunkt der Handlung rückte).

Leider stimmt dies so nicht, denn erst 200 Seiten vor Ende der Geschichte (genauer auf Seite 355) erreicht einer der Protagonisten endlich mal die Stadt Leipzig. Auch sonst spielt das berühmte Stadtviertel diesmal kaum eine Rolle. Vorher (und auch meistenteils nachher) spielt die Geschichte vor allem an der Côte d‘Azur (Nizza) des Jahres 1957 und des Jahres 1928 und in Sankt Petersburg zwischen den Jahren 1913 und 1917.

Auch diesmal ist die Handlung wunderbar verwinkelt und erschließt sich dem Leser erst, je weiter er in der Erzählung vordringt. Leider ist das Buch aber längst nicht so atmosphärisch dicht und magisch geraten wie sein Vorgänger. Ohne diesen Ausnahme-Roman würde man Kai Meyer bescheinigen, ein wirklich tolles und spannendes Werk vorgelegt zu haben. Im Vergleich schneidet das aktuelle Buch aber deutlich schwächer ab, auch wenn einer der Protagonisten aus dem vorherigen Buch auch in diesem wieder auftaucht.


Erzählt werden verschiedene Lebensgeschichten, so die des jungen Artur (Sankt Petersburg, 1913-1917), der, nach dem Tod der Eltern, zu reichen Verwandten kommt, sich dort aber nie so recht heimisch fühlt. Erst als die Familie auch noch die junge Mara, eine begabte Malerin adoptiert, entbrennt der junge Mann für sie und möchte ihr nahe sein. Dabei ahnt er nicht, dass Mara eine junge Femme fatal ist, deren Weg im wahrsten Sinn des Wortes mit Leichen gepflastert ist.

Dann ist da die junge Erbin Liette Chevalier, die im Alter von 11 Jahren (im Jahre 1928), nach dem Tod der Eltern, von ihrem Onkel und einem skrupellosen Arzt aus dem Weg der Erbfolge geräumt werden soll. Vermittels der Hilfe zweier russischer Exilanten (Artur und Grigori, letzterer den Lesern der Vorgängerbuchs bekannt) kann sie jedoch ihr Leben retten und ihr Erbe doch noch antreten.

Und vor allem ist da der Tunichtgut Thomas Jansen, der sich als Journalist, Erpresser und Schriftsteller im Jahre 1957 durchschlägt und von Liette engagiert wird, einige verschollene Erben der Familien Eisenhuth und Kalinin aufzuspüren.


Ab da verwirren und entwirren sich die diversen Knoten der Erzählung in recht packender Art und Weise, so dass keine Langeweile aufkommt. Kai Meyer gelingt ein überzeugendes Buch mit einem durchgehenden starken Spannungsbogen. Leider erreicht der Roman dabei aber weder die Komplexität noch den atmosphärischen Zauber von „Die Bücher, der Junge und die Nacht“. Es fehlen die düsteren, unheimlichen Elemente etwas, für die der Autor sonst bekannt ist. Alles wirkt zu nüchtern und zu stringent erzählt.

Trotzdem ein immer noch sehr gutes Buch, unterhaltsam, clever konstruiert und wunderbar geschrieben, aber leider mit der Bürde der direkten Nachfolge eines absoluten Meisterwerks. Und diesem Vergleich hält „Die Bibliothek im Nebel“ dann leider doch nicht so ganz stand.

Wer jetzt die Möglichkeit hat, da er beide Bücher noch nicht gelesen hat, sollte deshalb vielleicht mit diesem, dem etwas schwächeren, anfangen!