Robert Kraft: Das Gauklerschiff - Die Irrfahrten der Argonauten 3 (Buch)

Robert Kraft
Das Gauklerschiff - Die Irrfahrten der Argonauten 3
Kapitel 78-111
Titelbild: Georg Hertting
Verlag Dieter von Reeken, 2022, Hardcover, 592 Seiten, 30,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Der vorliegende dritte Sammelband mit den Kapiteln 78 bis 111 des Kolportage-Romans beginnt etwas anders, als erwartet. Statt dass es munter weitergeht mit den Ereignissen um die „Argos“, erwartet eine Zäsur den Leser. Das gesamte 78. Kapitel über, immerhin 48 klein gesetzte Seiten, wird eine neue Hauptperson eingeführt - so zumindest bezeichnet Robert Kraft selbst das Kapitel zu Beginn desselbigen.

 

Ein junger Deutscher, einst Sohn eines Gutsherrn, dann in Diensten der holländischen Fremdenlegion, kehrt nach Hause zurück. Er leistet seinen Wehrdienst ab, wird schikaniert, dann zum Burschen eines Leutnants. In dessen Diensten leiht er dem verarmten Leutnant Geld, macht dieser einer britischen Adeligen den Hof - nur um dann feststellen zu müssen, dass diese mit seinem Burschen verheiratet ist.

Hoppla, das hat ja schon Sitcom-Charakter, was uns Kraft hier an Verwicklungen und Geheimnissen offeriert. Immer wieder erstaunt bin ich jedoch von den Unterschieden zu unser heutigen Lebensweise. Das was Kraft uns hier beschreibt, ist eine starre Gesellschaft, in der das persönliche Ehrenwort über allem steht, in der ein jeder seinen festgelegten Platz in der Hierarchie hat, man miteinander, zumindest nach außen hin, in festen Regeln umgeht. Dass es dabei durchaus zu Neid, Missgunst und in der Folge dann zu Ressentiments, Anfeindungen und Nachstellungen kommt, wird nicht ausgeklammert. Das Ungewöhnliche für uns heutige Leser aber ist eindeutig, dass jeder zunächst sein Schicksal akzeptiert - die Adeligen herrschen, das Proletariat dient.


Nach diesem Exkurs richtet sich der Fokus wieder auf Brasilien. Hier liegt die „Argos“ vor Anker, hier greift die Mannschaft in einen Militärputsch ein. Und dies nutzt Kraft uns von Séancen, Tischerücken und Hellsehen zu berichten. Nun sind derartige Vorkommnisse in der Zeit der Handlung en vogue gewesen. Für die bessere Gesellschaft war es schick, sich zu Séancen, zu Wahrsagern und Medien zu begeben. Diese Modeerscheinung greift Kraft hier auf und nutzt sie, um seinen Leserinnen und Leser, die sich zumeist aus den eher einfachen Verhältnissen kommend rekrutierten, diese unbekannte Welt der Schönen und Reichen (Adeligen) vorzustellen.

Dann geht es, bildlich gesprochen, auf zu neuen Ufern. Die Crew der „Argos“ sucht und findet im tiefsten Sibirien ein Refugium. Weit abseits der Mächte der Welt, der Bevölkerungsmassen stellt ihnen die mysteriöse Geheimgesellschaft in Person von Merlin einen Ort zur Verfügung, der geschützt ist und in dem sie Kräfte tanken und ausruhen können. Heiße und kalte Quellen speisen einen See, es ist scheinbar nur einen Schritt bis nach Texas; die Fragen um die Wunder, die ihnen begegnen, nehmen deutlich zu. Dazu zählt dann auch eine Burg, in der ein Geist seit Generationen eingeschlossen ist - oder doch „nur“ ein kinematografisches Werk? Die Begum und ihre Amazonen kommen sie besuchen, es gibt erst Wettkämpfe, dann Krieg und immer wieder stoßen sie auf Spuren des Okkultismus.


Robert Kraft musste sich für seine Leserinnen und Leser immer wieder etwas Neues, etwas Spektakuläres einfallen lassen. Während das gehobene Bildungsbürgertum sich eher Goethe und Schiller zuwendete - die Schund- und Schmutzliteratur verschmähte -, warteten die einfachen Leute auf Neuigkeiten aus der unerreichbaren Ferne, aus exotischen Ländern und von fremden Völkern. Es darf vermutet werden, dass auch die hochgeistigen Bürger ab und an, natürlich nur verstohlen, nach den Lieferungen griffen; dass man derartig primitive Texte genoss, das durfte man selbstredend nicht, sonst wäre der gute Ruf ganz schnell flöten gewesen.

In „Das Gauklerschiff“ verarbeitete Robert Kraft in weit größerem Maße als in späteren Texten seine persönlichen Erfahrungen als Seemann. Wenn er über die „Argos“ fabuliert, merkt man den Szenen an, dass er das Meer, die Seefahrt liebt, dass er der Zeit, da er selbst die fremden Länder bereiste, ein wenig nachtrauert.

Ansonsten tritt die Geheimgesellschaft mehr in den Vordergrund, bereist die „Argos“ mit Russland und speziell Sibirien Landstriche, die sie bislang noch nicht erkundet hat. Das bietet dem Verfasser die willkommene Gelegenheit, einmal mehr mit seinem Wissen zu glänzen. Es werden fremde Völker und deren vermeintlichen Bräuche porträtiert, wir erfahren Einiges über die Flora, Fauna sowie die Geographie der bereisten Landstriche. Das ist nicht immer wissenschaftlich akkurat - damals gab es noch viele weiße Flecken auf der Landkarte -, birgt aber jede Menge interessante, phantasievoll aufgehübschte Details.

So bietet auch der vorliegende Band 3 von 4 wieder ein willkommenes Wiedersehen mit überholten Annahmen und Überzeugungen, die aber derart fesselnd und abenteuerlustig verpackt sind, dass sie heute, mehr als einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung, noch an die Seiten zu fesseln wissen.