Nele Neuhaus: Die Lebenden und die Toten (Hörbuch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 25. Mai 2022 11:55

Nele Neuhaus
Die Lebenden und die Toten
Bodenstein und Kirchhoff 7
Sprecher: Oliver Siebeck
Audible, 2014, Download, ca. 18 Stunden, ca. 29,95 EUR
Rezension von Elmar Huber
„Warum wurde eine Frau zwischen sechzig und siebzig Jahren auf offener Straße erschossen? War sie ein Zufallsopfer, einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? [...] Pia blickte sich um und runzelte die Stirn. Leere Äcker und Wiesen. In der Ferne glitzerten der Fernsehturm und die Frankfurter Skyline in der blassen Wintersonne, die sich durch die dicke Wolkenschicht gekämpft hatte."
Ein Scharfschütze macht die Umgebung von Frankfurt unsicher. Das Team von Pia Kirchhoff und ihrem Vorgesetzten Oliver von Bodenstein findet schon früh heraus, dass es zwischen den Opfern eine indirekte Verbindung gibt.
Zehn Jahre zuvor waren jeweils Familienangehörige der Sniper-Opfer auf verschiedene Art an der unautorisierten Organ-Entnahme bei Kerstin Stadler beteiligt. Offenbar wurden damals vorgeschriebene Wartezeiten verkürzt und die Angehörigen von den Ärzten unter moralischen Druck gesetzt, der Spende zuzustimmen. Außerdem konnte die Klinik eine unterschriebene Einverständniserklärung von Kerstins Vater vorweisen, die dieser jedoch nie wissentlich unterzeichnet hatte.
Um die Verantwortlichen seinen Schmerz nachfühlen zu lassen, müssen heute die Angehörigen derjenigen, die sich damals - in den Augen des Killers - des Mordes und der moralischen Unaufrichtigkeit schuldig gemacht hatten, sterben. Die Ermittlungen gestalten sich zäh, die zunächst scheinbare Wahllosigkeit der Morde versetzt die Umgebung von Frankfurt ausgerechnet in der herrschenden Vor- und Nachweihnachtszeit in einen empfindlichen Ausnahmezustand, und das Team um Pia Kirchhoff reibt sich zunehmend selbst auf.
„Heute war er allein. Und heute Nacht würde er jemanden töten. Es gab genug Menschen, die sich auf das neue Jahr freuten, es aber nicht mehr erleben würden. In der Silvesternacht gab es mehr Unfälle als sonst, und alte Menschen starben wie sie dauernd sterben. Aber ein Mensch würde sterben, der eigentlich noch nicht an der Reihe war. Oder doch? War diesem Menschen schon mit der Geburt bestimmt, dass er am 31.12.2012 durch ein Teilmantelgeschoss Kaliber 308 Winchester aus einer Steyr SSG 69 sterben würde? Oder hatte sich das erst durch die verschiedenen Entscheidungen ergeben, die er in seinem Leben getroffen hatte und die ihn dort hingeführt hatten, wo er heute Nacht sterben würde.“
Pia Kirchhoff ist dabei, die Koffer für ihre Flitterwochen zu packen, die sie gemeinsam mit ihrem Neu-Ehemann Christoph über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr nach Ecuador führen soll. Dass sie schließlich doch noch vor ihrem Abflug an einem Tatort landet und Weihnachten mit einer Mord-Ermittlung in Frankfurt verbringen muss, ist keine große Überraschung. Es kommt wie es kommen muss: Die Vollblutermittlerin Kichhoff hängt sich voll in den Fall des Taunus-Snipers, und Christoph begeht verständnisvoll seine Flitterwochen allein als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff.
Nach einem missglückten Heilig Abend im Kreis ihrer Familie, kann Pia immerhin ihre Schwester Kim - in weiterem Sinne ebenfalls eine Kriminalerin - zwischen den Feiertagen sowohl auf dem heimischen Birkenhof als Gast beherbergen, wie auch als Beraterin zu ihrem Fall hinzuziehen.
Während ihrer Ermittlungen stoßen die Polizisten auf eine ganze Wagenladung Verdächtiger, die zufällig alle gut schießen können. Da wird die Wahrscheinlichkeit schon sehr strapaziert. Doch Nele Neuhaus geht so schwungvoll darüber und über andere Plot-Untiefen hinweg, dass diese kaum ins Gewicht fallen.
Zusätzliche Spannung erhält der Roman durch eine clever konstruierte Parallelhandlung, in der eine Angehörige eines der Mordopfer ebenfalls recherchiert, was genau zehn Jahre zuvor passiert ist. So macht es die Autorin möglich, dass der Leser den Hauptermittlern teilweise einen Schritt voraus ist und eröffnet damit eine zusätzliche Spannungsebene.
Einen beträchtlichen Teil des Romans nimmt überdies das Privatleben von Pia Kirchhoff ein, was der Figur und dem Roman insgesamt merklich guttut.
Wie auch die vorigen Bände der Reihe bietet der siebente Taunus-Krimi von Nele Neuhaus angenehmen Realismus, der auch einem „Tatort“ gut zu Gesicht stehen würde. In diesem Fall könnte man daraus sogar eine Doppelfolge inszenieren. Immerhin weist das Hörbuch eine Länge von fast 18 Stunden (!) auf, die Buchausgabe immerhin 560 Seiten.
Kirchhoff-Bodenstein-Fans werden sich in „Die Lebenden und die Toten“ ohnehin wohlfühlen. Neuleser kommen trotz zahlreicher privater Momente sehr schnell in die Geschichte hinein und werden mit den Figuren warm. Es festigt sich außerdem der Eindruck, dass Nele Neuhaus von Buch zu Buch souveräner im Erzählen wird.
Zwar könnte „Die Lebenden und die Toten“ ein gutes Stück kürzer sein, doch sind innerhalb der Erzählung keine störenden Schleifen oder Durchhänger bemerkbar. Stets rechtzeitig setzt die Autorin einen Schnitt und schwenkt auch gern - und durchaus gleichwertig mit der Krimi-Handlung - ins absolut realistisch geschilderte Privatleben ihrer (Haupt-) Figuren. Und auch hier gibt es einiges zu erzählen, was die Figuren weiterbringt und die Stammleser danken werden. Lediglich die Figur des selbstherrlichen Profilers Neff funktioniert als reine Ermittlungsbremse für das Team und bleibt ansonsten für die Handlung wertlos. Die Abwesenheit dieses Unsympathen hätte niemand bemerkt.
Das Hörbuch: Gegenüber der gekürzten CD-Version, die von Julia Nachtmann gelesen wird, wird die ungekürzte Audible-Version von Oliver Siebeck vorgetragen. Das mutet in den ersten Minuten seltsam an, ist die Hauptprotagonistin der Reihe doch eine Frau. Doch bald ist man der ruhigen und eindringlichen Stimme des Erzählers „ausgeliefert“, der neben seiner Synchrontätigkeiten bereits zahlreiche Hörbücher eingesprochen hat.
„Die Lebenden und die Toten“ ist ein realitätsnaher Krimi mit lebensechten Ermittlern. Eine absolute Empfehlung für die Fans bodenständiger Thriller.