SHI 1: Am Anfang war die Wut... (Comic)

SHI 1
Am Anfang war die Wut...
(SHI 1 Au commencement était la colère... 2017)
Text: Zidrou
Titelbild und Zeichnungen: Homs
Übersetzung: Swantje Baumgart
Splitter, 2017, 56 Seiten, 14,80 EUR

Rezension von Elmar Huber

London, 1851: Bei einem Besuch der Weltausstellung macht die junge Miss Jennifer Winterfield eine erschreckende Entdeckung. Eine Japanerin hält den Leichnam eines Babys in den Armen. Kurzerhand wird die Asiatin mit dem Verdacht auf Geisteskrankheit in eine Anstalt eingewiesen, der tote Säugling wird, ohne großes Aufsehen zu erregen, nahe des Crystal Palace verscharrt.

Am selben Tag feiert Jennifers Bruder William seinen 21. Geburtstag und wird nach dem Dinner von seinem Vater und dessen Freunden in die Geheimnisse ihrer privaten Loge, der ‚Eries‘, eingeweiht. Die Gründungsmitglieder sind allesamt Kriegsveteranen, die während der Schlacht am Eriesee von den Indianern gefangengenommen wurden und die damals schworen, den Rest ihres Lebens der Machterhaltung des britischen Empire zu widmen.

Zeitgleich überredet Jennifer ihren Onkel, den Arzt Trevor Winterfield, seinen kollegialen Einfluss und seine Überredungskünste geltend zu machen und die Japanerin Kitamakura „Kita“ aus der Irrenanstalt zu befreien, wo sie von den Insassinnen wie eine Göttin verehrt wird. Bei dem anschließenden Vorhaben, den Leichnam von Kitas Baby wieder zu bergen, werden die Frauen entdeckt, und die folgenden Ereignisse führen nahezu in eine Katastrophe.

Gegenwart: Der Tod eines zivilen Jungen durch eine Mine des Rüstungskonzerns S.V.P.P.B. sorgt für Schlagzeilen. Mehr noch, nachdem Lionel Barrington, Geschäftsführer von S.V.P.P.B., in allen Punkten davon entlastet wird. Am selben Tag werden Barringtons Sohn und seine schwangere Frau durch eine ebensolche Mine auf seinem eigenen Grundstück zerfetzt. Zu der Tat bekennt sich eine geheime Organisation namens SHI.


Autor Zidrou liefert mit „SHI“ 1 einen Pageturner erster Güte ab, der den Leser sofort in seinen Bann zieht und förmlich willenlos durch die Handlung katapultiert. Man gewinnt die eigensinnige und ebenso hübsche wie wortgewandte Jennifer Winterfield sofort lieb, die einen erfrischenden Kontrast zu dem hochnäsigen Dünkel der britischen Oberschicht bietet, der sie selbst entstammt. Später wird man erfahren, dass diese selbsternannten Bewahrer des Empire selbst einige düstere und hässliche Geheimnisse hüten. So dient der Zirkel der Eries hier noch in erster Linie dazu, Sex- und Drogen-Orgien abzuhalten, auch Geistliche nicht ausgenommen, die ihr Faible für die Unterwäsche junger Damen mittels Erpressung pflegen.

Jennifers ausgeprägtes Moralempfinden und ihr Mitgefühl führt sie mit der geheimnisvollen Japanerin Kita zusammen. Ein Vorhaben, bei dem sie die Hilfe ihres Onkels Trevor regelrecht einfordert. Bei dessen Charakterisierung klingt durch, dass er, obschon er Mediziner ist, von seinem Bruder als schwarzes Schaf angesehen wird. So ist Trevor weder Pate seines Neffen, noch gehört er zum Kreis der Eries. Eher hat er, wie Jennifer selbst, den Status eines ‚Geduldeten‘ inne. Dennoch, oder gerade deswegen, kann Jennifer nach anfänglichem Sträuben auf seine Hilfe zählen, und die Befreiung Kitas aus der Irrenanstalt gerät zu einem wahren gemeinschaftlichen Husarenstück.

Am Ende ist jedoch die großbürgerliche Übermacht zu stark für die beiden ungleichen Frauen, und ihnen bleibt nichts, als sich in ein aufgezwungenes Schicksal zu fügen. Der Krieg scheint verloren für Jennifer und Kita, doch die kurze Gegenwartshandlung, die die Geschichte einschließt, und die Aussicht auf mindestens drei Folgebände zeigen an, dass dies nur die erste Schlacht war.

Hier stimmt einfach alles. Die Story entwickelt sich rasant, die Dialoge sind geschliffen, und die Charakterisierung, selbst der Nebenfiguren, ist punktgenau gelungen, was auch den ausdrucksstarken Zeichnungen zu verdanken ist, die die Mimik der Figuren brillant wiedergeben. Ferner bietet „SHI“ 1 ein fieberhaftes Wechselbad der Gefühle. Humorvolle Szenen wechseln sich in rascher Folge mit Bildern unerwarteter Härte ab, für die der Rezensent persönlich ein „ab 16!“ vergeben würde.

Der Künstler José Homs liefert für diese Nonstop-Achterbahnfahrt prächtige Bilder, die Stimmung und Tempo der einzelnen Szenen perfekt unterstützen. Aufwändig, elegant und stellenweise auch verflucht sexy.

Am Ende bleiben noch einige unbeantwortete Fragen für die Fortsetzungen offen, und man erhält gleichzeitig eine vage Ahnung des großen Bildes, das mit „SHI“ gezeichnet wird.

So ist dies ein phantastisch geschriebener und emotional mitreißender Action-Mystery-Page-Turner in prächtigen Bildern.