Marianne Labisch (Hrsg.): Die goldene Feder - Geschichten aus dem alten Orient (Buch)

Marianne Labisch (Hrsg.)
Die goldene Feder - Geschichten aus dem alten Orient
Titelbild und Innenillustrationen: Gern Scherm
p.machinery, 2021, Hardcover, 172 Seiten, 24,90 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Wir kennen sie alle, die Geschichten aus 1001 Nacht, die Sagen um Dschinns, Tempel und Basare, Schätze, Sandstürme und fliegende Teppiche. Kaum ein Sujet weckt sofort derartig viele exotische Reminiszenzen bei denen, die sich mit entsprechenden Stoffen befassen, wie diese Erzählungen, sei es in gedruckter, gesprochener oder cineastischer Form.

Marianne Labisch rief schon vor einiger Zeit - die Autorinnen und Autoren der Geschichtenweber hörten diese Aufforderung und legten entsprechende Storys vor.


Dabei wird oft auf eine ganz ungewöhnliche Sichtweise - nämlich die der Frauen - abgestellt. Da begegnen uns nicht nur mutige und intelligente Frauen, wir lernen auch Frauen kennen und schätzen, die sich gegen die ihnen von der von Männern dominierten Gesellschaft auferlegte Zügel und Grenzen auflehnen. Das bietet gerade für die Geschichten aus dem Orient oftmals gänzlich unerwartete und ungewohnte Einblicke und den Verfassern die mehr oder minder toll genutzte Gelegenheit, eine Lanze für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung und überkommene Rollenbilder zu brechen.

Sei es, dass eine Blondine von einer Sultanin in längst vergangene Zeiten beschworen wird, in denen sie einen Djinn kennenlernt.
Es geht um die Selbstbestimmung der Menschen, die die Götter diesen verleihen oder vorenthalten können; um eine junge Frau, die es als Erste ihres Geschlechts lernt zu kämpfen und zu zaubern; um eine Waise, die sich in einen Ziegenbock verliebt,; um einen Königssohn auf der Suche nach vergessener Magie und um einen Dschinn in einer Haarbürste.
Ferner um Sklavinnen, die aus einem Badehaus in S’handra, der Wüstenstadt der Träume und Gefängnisse fliehen; um ein Geheimnis das die Oase Am’Simam in den lebensspendenden Wasser hütet; um eine junge, übermütige Kriegerin die, um einen Bann zu brechen, einen Glasturm erklimmen und einen Schlüssel, der alles aufzuschließen vermag, holen muss.
Und um einen Terroristen in Kairo, der seinen Widerpart in einem VR-Spiel mit Dschinns und fliegenden Teppichen findet.


Wir begegnen in den Geschichten hochwohlgeborenen Adeligen, Sultanen und Sultaninen aber auch einfachen Menschen, Ziegenwächtern, Sklaven und immer wieder jungen Frauen. Neben der gleißenden Sonne, die Allah ans Firmament gepflanzt hat, eint sie ihre Suche nach Bestimmung und Glück.

Wo ist mein Platz im Leben, was will, was kann ich erreichen, wie dafür Sorge tragen, dass es meinen Kindern besser gehen wird als mir - nachvollziehbare Fragen, die unsere Protagonisten ein ums andere Mal in gefahrvolle, exotische ja malerisch-magische Situationen und Orte führt.

Nicht jede der enthaltenen Geschichten hat mich in gleichem Maße fesseln können. Einige boten inhaltlich wie stilistisch eher maue Kost, Andere dafür waren herausragend und faszinierend.

Doch das ist es ja gerade, was mich an Anthologien so sehr fesselt: die Möglichkeit, auf Schätze zu stoßen, Entdeckungen zu machen und von der Wucht der Erzählung mitgerissen zu werden.

Hier wird jede Leserin und jeder Leser, die/der die Anthologie liest, andere Favoriten finden; es ist immer eine Sache des persönlichen Geschmacks.

Der Verlag gibt sich mit den Bänden dieser Edition besondere Mühe. Ein ungewöhnliches, quadratisches Großformat, dazu Fadenheftung, Lesebändchen, Zweispaltendruck, Kunstdruckpapier und die ganzseitigen Farbillustrationen machen die Titel der Reihe zu einem Schatz in jedem Bücherregal.

Gerd Scherm hat sich hier selbst übertroffen - die großformatigen Illustrationen sind nicht nur inhaltlich passend, sondern nehmen auch die Atmosphäre der jeweiligen Geschichte auf, ja bringen diese zusätzlich zur Geltung.

So ist dies ein Band, der den Leser in eine ungewohnte, orientalische Welt entführt - eine Welt, die auf den ersten Blick malerisch aussieht, die aber hinter den verhüllenden Schleiern, Gefahren bereit hält, Menschen daran hindert, ihr Potential zu heben und frei zu sein. Dass die Protagonisten zumeist erfolgreich versuchen, gegen diese Grenzen aufzubegehren, verkarstete Strukturen aufzubrechen und ein wenig mehr Gerechtigkeit in das Dasein zu bringen, können wir uns für die wirkliche Welt nur wünschen.