Jörg Weigand: Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie - Der Sittenroman im Leihbuch nach 1945 (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 19. Mai 2021 12:11

Jörg Weigand
Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie - Der Sittenroman im Leihbuch nach 1945
Verlag Dieter von Reeken, 2021, Paperback, 208 Seiten, 17,50 EUR
Rezension von Carsten Kuhr
Jörg Weigand ist uns als kenntnisreicher Kurzgeschichten-Autor, Essayist, Journalist und als Spezialist für die Publikationen in Deutschland nach 1945 ein Begriff.
Insbesondere einer - meines Wissens nach nur im deutschsprachigem Raum vorkommenden Publikationsform - hat er seine Aufmerksamkeit geschenkt: dem Leihbuch. In diversen Abhandlungen und Büchern hat er sich des Themas angenommen. Zu erwähnen sind hier sein im Nomos Verlag erschienenes Standardwerk „Träume auf dickem Papier“, aber auch die bei DvR publizierten Bände „Das utopisch-phantastische Leihbuch nach 1945“ und „Die Autoren der utopisch-phantastischen Leihbücher - Eine Übersicht“.
Vorliegend nimmt er sich des Sittenromans an - einer Sparte, eine Spielart, die auch unter Sammlern kaum erforscht, noch weniger wissenschaftlich aufgearbeitet wurde.
Der Begriff Sitte hat heutzutage, wie Rainer Schorm in seinem Nachwort unter anderem so treffend ausführt, kaum mehr eine Bedeutung. Sitte und Moral waren ein Zügel mit dem die gutbürgerliche Elite, oder zumindest diejenigen, die die Deutungshoheit über das was rechtens ist bei sich glaubten, subversive Tendenzen ausbremsen wollten. Der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften wurden über die Jahrzehnte unzählige Publikationen gemeldet, die nach Auffassung der Ankläger auf den Index kommen und nicht länger frei verkäuflich sein sollten.
Unter diesen waren - naturgemäß - viele Gesellschafts- und Sittenromane, die den Lesern, oftmals verpackt in eine Kriminalhandlung, einen fiktiven Einblick in eine verbotene Welt ermöglichten. Bordelle, Prostituierte, unübliche Sexualpraktiken - nur ein paar Beispiele, die den Leihbuchleser dazu animierten, den gegenüber anderen Genres erhöhten Leihpreis zu berappen.
Weigand stellt uns nicht nur die Verlage und Macher dieses Genres vor, er dokumentiert auch die Existenz und Vorgehensweise der Bundesprüfstelle. Dabei sind Teile der entsprechenden Expertisen abgebildet, stellt er uns exemplarisch indizierte Werke vor.
Besonders zu erwähnen ist, dass der Verfasser sich einmal mehr die Sisyphusarbeit gemacht hat, zu den Autoren der Romane zu recherchieren, uns diese kurz aber erschöpfend vorstellt. Daran schließt sich eine illustrierte Bibliographie der Bücher an, bevor die Liste der indizierten Sittenromane das Buch zusammen mit dem bereits erwähnten Nachwort von Rainer Schorm abschließt.
Wer sich für eine fast vergessene Ära deutschsprachiger Publizistik interessiert und/oder wer mehr über die Arbeit der Prüfstelle erfahren möchte, der wird hier auf eine sorgfältig recherchierte Darstellung treffen, die ein verpöntes, vergessenes Kapitel Bundesdeutscher Verlagsgeschichte ans Tageslicht holt.