Harris, Joanne: Der leuchtende Stein (Buch)

Joanne Harris
Der leuchtende Stein
(Runemark, 2007)
Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung
Titelgestaltung von istockphoto/Lukasz Laska/Christopher O Driscoll
cbt, 2009, Taschenbuch, 544 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 978-3-570-30515-7

###Von Britta van den Boom

Jahrhunderte sind seit Ragnarök, dem großen Krieg, in dem die alten Götter starben oder verschwanden, vergangen. Die Welt von Maddy in dem kleinen Dorf Malbry ist geordnet und überschaubar, folgt den Gesetzen des neuen namenlosen Gottes, der die Ordnung predigt und jede Art von Phantasterei, von Übersinnlichem und sogar Träume verbietet.

Doch während alle zufrieden damit sind, Teil dieser neuen Welt zu sein, kann das Maddy nicht gelingen. Sie trägt von Geburt an ein Runenmal auf der Hand und kann Magie wirken, die Kobolde aus dem nahegelegenen Hexenhügel vertreiben, und sie hat einen sonderbaren Freund, den einäugigen Wanderer, der ihr die verbotenen alten Legenden erzählt und sie in der Runenkunst unterrichtet.
Bald muss Maddy feststellen, dass niemand und nichts wirklich genau so ist, wie es zu sein scheint – nicht einmal sie selber. Denn die verlorengegangene Vergangenheit ist sehr viel näher, als jeder denkt, und rasch findet sich Maddy mitten in ihrer eigenen Sage voller Asen, Wanen, Dämonen, Geister, Orakel und den fanatischen Anhängern der neuen Ordnung wieder. Und die Rolle, die sie bei der Frage spielt, ob die Welt diesmal wirklich unter geht oder ein neues Zeitalter beginnt, ist sehr viel größer, als sie sich je hätte träumen lassen.

Joanne Harris spinnt in ihrem ersten Jugendbuch eine wunderbare Geschichte, die im Kleinen beginnt und auf den über 500 Seiten rasch zu einer großen Sage heranwächst, in der einem die jugendliche Heldin Maddy genauso nahesteht wie die Götter der alten Zeit, die sich meistens erstaunlich menschlich geben.
Dabei entfernen sich die Protagonisten nie weiter als ein paar Tagesmärsche um das verschlafene Malbry herum – oder eher: darunter, denn wie bei einem großen, aufwändig geknüpften Spinnennetz führen letztlich die Wege aller in die Unterwelt Hel und an die Gestade des Traumflusses. Während die Welt Maddys an der Oberfläche trotz Runenmagie und Kobolden vertraut wirkt, bekommt sie in der Tiefe – gerade im rasanten letzten Teil – etwas Surrealistisches, so dass Handlung und Umgebung zeitweise gleichermaßen verworren wirken, ohne dass man als Leser jedoch darin verlorengehen kann.
Nicht nur ist die Erzählung gut geschrieben, sie bleibt auch dadurch spannend, dass stets unerwartete Dinge passieren und die meisten Personen ein Geheimnis mit sich tragen, das auch dem Leser erst nach und nach enthüllt wird. Auf diese Weise hat Joanne Harris ein sehr unterhaltsames Werk geschaffen, in dem sie alte Sagen mit moderner Fantasy mischt, und das trotz der Einordnung in die Jugendbuchreihe von cbt auch für andere Altersgruppen interessant ist, mit runden Charakteren, vielen Überraschungen und sehr bildhaften Beschreibungen.
Auffällig vom Stil her sind allein zwei Dinge: Erstens schlagen auch die Götter einen teilweise nahezu flapsigen Ton an, der oft sehr gut passt, zuweilen aber schon an Anachronismen grenzt, und zweitens hat die Autorin eine Vorliebe für lange Aufzählungen, die einem immer wieder und unnötigerweise begegnen.

»Der leuchtende Stein« ist in sich abgeschlossen, wenngleich es zum Schluss auch Ausblicke auf weitere Ereignisse – vielleicht für einen Folgeband? – gibt, und verspricht einige Stunden phantastischen Lesevergnügens.