Seanan McGuire: Der Atem einer anderen Welt (Buch)

Seanan McGuire
Der Atem einer anderen Welt
(Every Heart a Doorway / Down among the Sticks and Bones / Beneath a Sugar Sky, 2016-2018)
Übersetzung: Ilse Layer
Tor, 2019, Hardcover, 462 Seiten, 19,99 EUR, ISBN 978-3-596-29884-6 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Christel Scheja

Deutsche Leser werden Seanan Mc Guire durch ihre „October Daye“-Romane kennen, die bei Lyx erschienen sind. Doch die Autorin hat sich noch viel häufiger in den phantastischen Genres bewegt, als hierzulande bekannt ist und auch schon einige Preise gewonnen. Für das hier vorliegende Buch wurde sie gleich mit vier der größeren Preise wie dem Locus Award und dem Hugo Award ausgezeichnet.

 

„Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen“ ist ein ganz besonderes Internat, in das nur Kinder aufgenommen werden, die bestimmte Dinge erlebt haben und mit denen ihre Angehörigen nicht zurecht kommen, die aber die Leiterin sehr genau kennt. Denn Eleanor erkennt diejenigen, die tatsächlich in anderen Welten waren und sich das nicht nur einbilden, so wie ihre Verwandten es glauben wollen.

Auch Nancy ist ein solches Mädchen. Über Jahre in der „Halle der Toten“ verschwunden, hat sie nun, nach ihrer Rückkehr, nur einen Wunsch: Sie möchte wieder dort sein, wo sie ihren inneren Frieden gefunden hat. Deshalb fällt es ihr zunächst schwer, sich im Internat einzufinden. Doch andere geben nicht auf und gewinnen nach und nach ihr Vertrauen - bis zu dem Moment. als ihre Zimmergenossin ermordet wird.

Und dann sind da Zwillinge, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber auch sie verbindet die Sehnsucht nach der Welt, in der sie glücklich waren. Und während der eine diese unterdrückt und Geduld hat, scheint der andere genau das Gegenteil zu wollen.


Die Autorin hat drei Novellen zu einem Buch vereint, von denen die ersten beiden zwar in sich geschlossen sind, aber den Grundstock dessen bilden, was für die dritte Erzählung wichtig wird.

Dabei greift Seanan McGuire ein sehr beliebtes Thema auf, das schon in den Kinderbüchern des 19. Jahrhunderts zu finden war. Was wäre, wenn Zauberwelten wie das „Wunderland“, das „Spiegelland“ oder „Oz“ wirklich existieren und nur bekanntere Beispiele für die unzähligen anderen verrückten Welten wären, in der die menschliche Phantasie an ihre Grenzen gebracht wird, in der Märchen wahr sind, der Unsinn oder gar die Logik regieren? Und die den Kindern manchmal mehr Freiheit bringen, als sie in ihrem früheren Leben hatten.

Die Novellen greifen verschiedene Aspekte auf: Die erste bewegt sich in dem ganz speziellen Internat, das auf die Bedürfnisse der an diese fremden Welten verlorenen Kinder eingeht, weil auch deren Lehrer sich da auskennen. Eleanor West ist dabei nicht einmal die Hauptfigur, das ist eher eine Gruppe von Jugendlichen, die herausfinden müssen, wer daran schuld ist, dass so viele ihrer Freunde durch Gewalt sterben.

In der zweiten und dritten Geschichte lernt der Leser dann diese anderen Welten kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch oft für die begehrenswert sind, die die Ruhe oder Lebendigkeit und ihren Daseinszweck im Hier und jetzt nicht finden.

Die Erzählungen sind in einem märchenhaften, sehr poetischen Stil gehalten, machen keinen Hehl daraus, dass sie hier eine alte Tradition aufgreifen, die schon im 19. Jahrhundert existierte. Der Eskapismus der Anderswelten lädt junge und ältere Leser dazu ein, sich wieder auf diese Traumfahrten einzulassen, ohne nach einem Sinn zu suchen. Einen roten Faden gibt es freilich, aber er wird dann doch recht locker gehalten. Und man sollte offen sein für alle Spielarten dieses Themas, von den ernsten und düsteren Welten, die die Qualitäten eines Goth-Märchens; haben bis hin zu verrückten und abgedrehten Orten, an denen der gesunde Menschenverstand und das Zeitempfinden eher ausgeschaltet sind.

Das Experiment ist gelungen und man versteht, warum das Buch so viele Preise einheimsen konnte, bietet es doch nicht nur Lese-Vergnügen, sondern auch ein paar sehr berührende und nachdenkenswerte Momente. Auch wenn man sich bei jeder Erzählung erst wieder neu einfinden muss, bietet doch jede eine ganz eigene und neue Atmosphäre, die es in sich hat.

Dazu kommt ein leichtfüßiger, ein wenig verschrobener Stil, der auf Längen verzichtet und sich auf das Wesentliche konzentriert. Allein die Figuren bleiben blass, aber das ist in dem Fall auch Mittel zum Zweck.

Fazit: „Der Atem einer anderen Welt“ ist eine durchaus interessante und unterhaltsame Lektüre, allerdings sollte man sich darauf einlassen können, dass die Autorin sich hier eher an klassische Kunstmärchen hält und mit den Bildern spielt, die man von dort kennt, sei es nun in einer eher gruseligen und düsteren Welt oder in einer, in der das blanke Chaos der Unmöglichkeiten regiert.