Abby Geni: Ein Grab in den Wellen (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Sonntag, 23. Juli 2017 07:12

Abby Geni
Ein Grab in den Wellen
(The Lightkeepers, 2016)
Übersetzung: Urban Hofstetter
Pendo, Paperback, 368 Seiten, 15,00 EUR, ISBN 978-3-86612-423-3 (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Irene Salzmann
Miranda ist 13 Jahre alt, als sie ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall verliert. Seither schreibt sie der Verstorbenen Briefe, um das Gefühl des Verlusts zu kompensieren - und irgendwie durch den Tag zu kommen. Nach dem College arbeitet sie als Naturfotografin, reist um die ganze Welt und schreibt diese Briefe noch zwanzig Jahre später, als sie auf den Farallon-Inselarchipel gelangt, auf dem sie ein Jahr verbringen will.
Dort gibt es nichts anderes als eine gefährliche Natur und eine Gruppe skurriler Biologen, die ihr Leben der Erforschung von Haien, Robben und Vögeln gewidmet hat. Von Mirandas Ankunft wird kaum Notiz genommen, denn alle haben bloß ihre Arbeit im Kopf; anderenfalls würden sie es in der Einöde wohl kaum aushalten.
Schon bald erfährt Miranda, dass eines der ungeschriebenen Gebote lautet, nicht über die eigene Vergangenheit zu sprechen oder nach der eines anderen zu fragen. Ein anderes gemahnt zur Vorsicht, und schnell zahlt sie Lehrgeld, weil sie sich bei einem Sturz auf unsicherem Untergrund verletzt und obendrein eine ihrer teuren Kameras verliert. Ebenfalls wichtig ist die Nichteinmischung, egal, wie ergreifend eine Beobachtung ist,
Mit der Zeit gewöhnt sich Miranda an die Schrullen der anderen. Allein Andrew, der mit Lucy liiert ist, ist ihr unheimlich. Zu Recht! Nach einer kleinen Feier, bei der alle dem Alkohol zusprechen, wacht Miranda auf - während sie vergewaltigt wird. Durch Andrew. Niemand bekommt davon etwas mit oder hilft ihr. Sie hat Angst, zieht sich zurück und wird krank. Drei Tage später wird Andrew tot aufgefunden. Es soll nicht der einzige… Unfall bleiben. Und noch etwas bereitet Miranda Sorgen: Sie ist von Andrew schwanger.
„Ein Grab in den Wellen“ ist ein merkwürdiger Krimi. Die Autorin erzählt in der ersten Person aus Mirandas Sicht ständig von sich, stellt sich selbst permanent in den Mittelpunkt und lässt den anderen praktisch keinen Raum, um sich zu entfalten. Die Biologen bleiben mehr oder minder anonyme Statisten mit Geheimnissen, die allenfalls per Zufall ans Tageslicht kommen. Auf der einen Seite wirkt das recht authentisch, auf der anderen einseitig.
Letzteres vor allem deshalb, weil Miranda in der Vergangenheit lebt, vom Verlust ihrer Mutter erzählt und ihr ständig Briefe schreibt - der Leser fühlt sich, obwohl die Mutter gemeint ist, per Du angesprochen. Man weiß sofort, dass der einsame Archipel ein Fluchtort ist, was für die Biologen ebenfalls gilt, deren Motive auch nach und nach enthüllt werden.
Dass Miranda durch die Briefe verarbeitet, was sie erlebt, wirkt… bestenfalls schräg, bewahrt sie aber in gewisser Weise auch vor dem Durchdrehen, als sie sich in die Biologen-Gesellschaft integrieren muss, in der sie nicht bloß Freundschaft oder Neutralität erfährt, vergewaltigt wird, ihre Schwangerschaft realisiert und neuerliche Verluste erfährt. Es dauert eine ganze Weile, bis sie ihr Dilemma begreift, das wenige Positive, das sie voranbringt, erkennt und die Konsequenzen zieht.
Diese Handlung ist eingebettet in detaillierte, wiederkehrende Beschreibungen der Natur und der Gefahren auf dem Archipel. Was man in den Dokumentationen von Bernhard Grzimek, Heinz Sielmann, Jacques Cousteau, Thor Heyerdahl & Co. nicht sah, weil man das dem Publikum nicht zumuten konnte - anhaltend schlechtes Wetter, Entbehrungen, mangelnde Hygiene, Krankheiten, Todesfälle und so weiter -, wird hier ungeschminkt eingefügt. Es gibt keine Naturfotografen- oder Biologen-Romantik, ganz im Gegenteil.
Die Natur wird als gnadenlos geschildert. Survival of the fittest. Die Biologen verstehen sich als Beobachter, als Bewahrer, die sich nicht einmischen. Wie vor ihnen die Menschen, die den Leuchtturm warteten, bevor er automatisiert wurde, und die von Eierdieben und anderen Gewinnsüchtigen heimgesucht wurden. Es gibt Anspielungen auf jene Zeit, die sich im Originaltitel wiederfinden, aber diffus bleiben, weil Miranda selbst nicht ganz die Zusammenhänge herstellen kann.
Aber im Prinzip sind die wenigen Bewohner des Archipels nichts anderes als ein Bestandteil der Natur. Es geht ums Überleben. Nicht jeder schafft es. Die hungrigen Haie, die um Dominanz kämpfenden Seeelefanten, die aggressiven Vögel sind Metaphern für die Menschen - aktuell: die Biologen -, die sich genauso verhalten. Das wird im Laufe der Handlung immer deutlicher, aber es gibt auch einige Überraschungen, die mit dem Perspektivenwechsel am Ende einher gehen, der… nun… so überraschend doch nicht kommt, trotz des Stilbruchs den Kreis schließt und die Schuldfrage schwammig werden lässt, da für Einige der Zweck die Mittel heiligt.
Nach der Lektüre bleibt man rätselnd zurück. Eigentlich geht es um die Psyche einer jungen Frau, die den Tod eines Elternteils nicht verkraftet, doch letztlich zieht sie daraus eine gewisse Stärke. Die Naturbeschreibungen, realistisch und interessant, im Rahmen der Wiederholung mitunter ermüdend, und Mirandas nebensächlich erscheinenden Probleme erdrücken die Krimi-Handlung, die jedoch nicht genug zu bieten gehabt hätte ohne diese Komponente.
Darum: Ein merkwürdiger Krimi, den man nicht unbedingt kennen muss, da der Klappentext mehr verspricht, als das Buch hält („…Miranda fragt sich, ob die Insel tatsächlich verflucht ist, oder ob einer von ihnen ein grausames Spiel treibt…“). Kein Fluch, kein grausames Spiel - schade!
Autoren, die erfolgreich Schreibschulen absolviert haben wie Abby Geni, vermögen vielleicht zu fabulieren und nach einem Baukastensystem eine spannende Handlung aufzubauen, aber sie können auch das eigentliche Ziel vor lauter Seitensoll erfüllenden Nebensächlichkeiten aus den Augen verlieren wie in diesem Fall.