Eric Nylund: Der goldene Apfel – Gemini 1 (Buch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 01. Mai 2010 11:59
Eric Nylund
Der goldene Apfel
Gemini 1
(Mortal Coils)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Maike Claußnitzer
Titelillustration von Shutterstock
Penhaligon, 2010, Hardcover, 764 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-7645-3049-5
Carsten Kuhr
Wir leben unser Leben, manche besser, andere nicht so gut. Jeder versucht, das Beste aus seinem Schicksal zu machen. Einige finden Halt im Glauben, andere wenden sich von der Kirche und den unterschiedlichen Religionen ab, huldigen stattdessen anderen, moderneren Göttern. Macht, Reichtum, Einfluss, Sex, das sind die Götter, auf deren Altären die karrieregeilen Yuppies ihre Opfer bringen. Von den alten Göttern redet niemand mehr. Sie werden, wenn überhaupt, belächelt, verunglimpft und dienen Disney und Co. als Vorlagen für ihre Zeichentrickfilme. Ihre Nachfolger, die Engel und ihre gefallenen Brüder und Schwestern, taugen allerhöchstens für Romane, die sich bei pubertierenden Mädchen großer Beliebtheit erfreuen.
Willkommen also in der ebenso tristen wie hektischen Wirklichkeit. Und in eben jener wachsen die Zwillinge Fiona und ihr Bruder Eliot bei ihrer Großmutter Audrey auf. In eine Schule gehen die Beiden nicht, Audrey bringt ihnen im Heimstudium die Weisheiten der Wissenschaften bei. Dabei führt die alte, resolute Dame ein mehr als strenges Regiment. Nicht weniger als 106 Regeln gilt es minutiös zu beachten, Vorschriften, die nie gelockert werden, die alles, was auch nur subversiv sein könnte, von den Beiden fernhalten soll. Frei nach dem Motto "Arbeiten stärkt die Seele" müssen sie neben dem immensen Lehrstoff jeden Tag vier Stunden in einem Pizzarestaurant schuften.
An ihren fünfzehnten Geburtstag aber soll sich ihr Leben, so wie sie es bislang kannten, auf ewig ändern. Bis zu diesem Zeitpunkt, wurden sie auf ihre Fragen nach den Eltern immer vertröstet. Jetzt stellt sich heraus, dass sie Abkömmlinge zweier ganz besonderer Familien sein sollen. Familien, die nicht nur einflussreich und reich sind, sondern auch über ganz besondere Kräfte verfügen.
Eine unsterbliche Göttin und ein gefallener Engel verliebten sich vor rund 15 Jahren ineinander. Was nicht sein durfte und aufgrund des uralten Vertrages der beiden Familien auch nie sein darf, führte zur Geburt der Zwillinge. Als Mischlinge sind diese als Einzige nicht an den Nichtangriffspakt gebunden, wäre es ihnen, rein theoretisch, möglich, ungestraft eine der Familien auszulöschen.
Nach ihrer Entdeckung beginnen beide, gefallene Engel wie unsterbliche Götter und Helden, die Zwillinge zu prüfen. Jeweils drei Versuchungen beziehungsweise Aufträge gilt es zu überstehen, dabei die eigenen unbekannten Gaben zu entdecken und am Schluss sich für eine der verfeindeten Familien zu entscheiden – so sie denn die Prüfungen überleben ...
Eric Nylund war mir bislang in erster Linie von seinen Romanen zum PC-Game "Halo" ein Begriff. Insoweit machte ich mich, ich muss es zugeben, mit ein wenig Skepsis an die Lektüre – und wurde mehr als positiv überrascht! Natürlich erzählt Nylund uns eine Geschichte des Kampfes Gut gegen Böse mit den gewohnten jugendlichen Protagonisten, mit Göttern und Engeln, Kämpfen und Intrigen. Dies alles aber derartig packend und dicht, dass ich trotz des Umfangs förmlich an den Seiten klebte. Immer wieder lässt der Autor sein enormes Wissen aufblitzen, nutzt unterschiedlichste Quellen und Mythen, um uns von seinem Pantheon der Götter und Engel zu berichten. Gilgamesch, Zeus, Loki und Beelzebub zusammen mit biblischen Quellen, den Göttern der Asen und Griechen, das hört sich eher wie ein bunter, in sich nicht stimmiger Mischmasch an, ist aber tatsächlich wie aus einem Guss. Auffallend dabei, dass es der Autor versteht, seine Götter immer in einem ungewöhnlichen Kontext darzustellen und in deren Person verschiedenste Quellen und Bezüge zu vereinen. So haben seine Götter nicht nur Bezüge zum Olymp sondern gleichzeitig zu Walhalla und den Artus-Mythen, findet der Leser immer wieder neue, faszinierende Hinweise und Anspielungen. Auch die Idee mit den unumstößlichen Regeln, die immer wieder an passender Stelle zitiert werden, und die Anreicherung des Textes mit Fußnoten aus fiktiven Sekundärwerken tragen zum Lesevergnügen bei.
Nylund versteht es, uns dabei seine Handlung plausibel zu machen. Hierzu trumpft er insbesondere mit der detailreichen und liebevollen Zeichnung der beiden Hauptdarsteller auf, durch deren zunächst unschuldigen Augen wir das Geschehen betrachten. Bei all dem trockenen Wissen, das ihre Großmutter ihnen aus Büchern vermittelt hat, sind sie innerlich unsicher und menschenscheu. Mangels persönlicher Erfahrungen im Umgang mit Menschen haben sie nie die Regeln des Miteinander, des Interagierens, gelernt und verinnerlicht. Als sie dann, behütet und abgeschottet wie sie aufgewachsen sind, auf die Realität losgelassen werden, sind sie zunächst geschockt, verängstigt und, naiv wie sie sind, leicht zu beeinflussen. Nur zu bald aber lernen sie, wenn auch schmerzhaft, sich zu behaupten. Diese Entwicklung wird gut nachvollziehbar und in sich überzeugend dargestellt. Unsere Protagonisten sind, obwohl sie so abgeschottet aufwuchsen, Menschen wie du und ich, Personen in deren Haut man leicht schlüpft und mit denen man leidet. Geschickt in der mitreißeinenden Handlung verpackt geht es dem Autor dabei auch, ja vielleicht sogar im Wesentlichen, um die Macht der Liebe. Was Menschen, Götter und Teufel nicht alles bereit sind selbstlos zu opfern, nur aus einem Gefühl heraus – nur?
Mit den Zwillingen zusammen macht sich der Leser auf die Entdeckungsreise nach deren Ahnen, muss sich den teuflischen Versuchungen (Verführung, Sucht und Macht) ebenso stellen, wie den Heldenquesten. Dabei geht es durchaus zur Sache – müssen sie sich nicht nur modernen Mythen, wie dem Krokodil in den Abwasserkanälen oder verrückten Serienkillern und Kinderschändern stellen, sondern sich dann auch und insbesondere mit ihren eigenen Ängsten beschäftigen. Im Hintergrund lauert dabei immer die Frage, wer sie sind, woher sie kommen, und wem sie sich zugehörig fühlen. Gleichzeitig gilt es, die eigenen Kräfte zu entdecken und zu akzeptieren – Fiona kann mit einem Faden buchstäblich durch jede Materie schneiden, Eliots Geigenspiel vermag das Universum selbst zu beeinflussen. Nur zu bald müssen unsere Zwillinge erkennen, dass beide Familien mit aller Macht versuchen, sie auf ihre Seite zu ziehen, oder aber, sie um einen Vorteil des Gegners zu vermeiden gnadenlos ausschalten wollen. Dabei ist beiden Seiten jedes Mittel recht. Es wird intrigiert, verführt, bestochen, unter Druck gesetzt und manipuliert, dass es, zumindest für den Leser, eine wahre Freude ist.
Temporeich, mit jeder Menge überraschender Wendungen versehen und mit Ideen gespickt, wartet ein ganz eigenes Leseerlebnis auf den Rezipienten. Das erinnert ein wenig an eine Mischung aus "Mythenwelt" und "American Gods", geht dann aber wieder ganz eigene, andere und faszinierende Wege. Die Nebencharaktere sind noch nicht ganz so dezidiert ausgearbeitet, bieten aber Potential für die weiteren (in Planung befindlichen) vier Romane.
Insgesamt ein sensationeller Auftakt eines Zyklus, der den Leser abseits des Üblichen in seinen Bann zieht und die Zeit bis zur Veröffentlichung des nächsten Teils lang werden lässt.