Barbara Schinko: Schneeflockensommer (Buch)

Barbara Schinko
Schneeflockensommer
Tyrolia, 2015, Hardcover, 158 Seiten, 14,95 EUR, ISBN 978-3-7022-3484-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Die 14jährige Marie ist fortgelaufen, weil sie schwer an einem Geheimnis - an einer Schuld - trägt. Sie schläft in einigermaßen geschützten Winkeln, ernährt sich von Abfällen und trinkt aus Pfützen. Als sie in den Bergen von einem Gewitter überrascht wird, sucht sie Zuflucht im Keller eines abgelegenen Hauses. Bei der Suche nach etwas Essbarem wird sie von ‚Eisen-Berta‘ ertappt, der die Anwesenheit des Mädchens nicht entgangen war.

Sie lässt Marie in einer Kammer schlafen und gibt ihr zu Essen. Im Gegenzug soll sie sich im Haus nützlich machen und sich um die Ziegen kümmern. Dabei leistet ihr der um ein Jahr ältere Linus, Sohn des Gastwirts, gern Gesellschaft. Im gleichen Maße, wie Marie zurückhaltend und schweigsam ist, ist er offen und redselig. Trotz seines behutsamen Vorgehens gelingt es ihm nicht, das Mädchen aus der Reserve zu locken und herauszufinden, was sie bedrückt.

Als die 11jährige ‚Rapunzel‘, Tochter vermögender Eltern, die für diesen Sommer die Burg gemietet haben, zu ihnen stößt, zieht sich Marie noch mehr zurück. Die unbeschwerte Fröhlichkeit des jüngeren Mädchens erscheint ihr unerträglich, und ein bisschen eifersüchtig ist sie auch, weil sie Linus’ Aufmerksamkeit, die sie erst ablehnte, nun teilen muss. Aus einem Impuls heraus stiehlt sie Rapunzels geliebtes Märchenbuch.

Am Schlimmsten ist für Marie jedoch, dass sich eine der Ziegen durch ihre Unachtsamkeit verletzt. Berta will den jungen Bock schlachten, um ihn von seinem Leid zu erlösen. Marie mag das nicht zulassen und kümmert sich rührend um das Tier, dessen Schicksal ihre Schuldgefühle noch vergrößert. Ihr wird klar, dass sie sich den Folgen all ihrer Tat stellen muss.


Barbara Schinko entführt ihre Leser in die eigentümliche Welt eines abgelegenen österreichischen Bergdorfs, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Die alten Sagen und Märchen sind noch Bestandteil des Alltags, schüren zugleich Ängste und Hoffnungen und wirken sich somit auf das Leben der Menschen aus. Für Marie, die auf der Flucht vor sich selbst ist und dem, was sie getan hat, wird das Haus der strengen, aber gutherzigen ‚Eisen-Berta‘ zu einem Heim auf der dünnen Grenze zwischen der bitteren Realität und einem aus ihr entrückten Ort.

Auch wenn es Marie dort zunächst nicht gefällt und sie mit Bertas resoluter Art Probleme hat, erledigt sie die ihr aufgetragenen Arbeiten und ist bei allem Trotz dankbar, dass niemand auf Antworten beharrt. Linus geht ihr anfangs auf die Nerven, aber mit seiner freundlichen Beharrlichkeit erreicht er, dass Marie ihn schließlich akzeptiert… und mehr. Sogar ‚Rapunzel‘, in der Marie lange einen Störfaktor sieht, der sie wütend macht, ist ihr wichtig, weil das Märchenbuch des Mädchens in Marie etwas erweckt.

Was Marie bedrückt, bleibt lange im Dunkeln. Man kann nur raten, dass es etwas so Schlimmes ist, dass sie keinen anderen Ausweg sah, als aus ihrem eigenen Leben zu fliehen - aus Angst vor dem, was mit ihr geschehen würde, wenn man sie zur Rechenschaft zieht. Auf den letzten Seiten, auch unter der Einflechtung des Märchens von „Frau Holle, der Goldmarie und der Pechmarie“, erfolgt die Auflösung, aber nicht in allen Details, sodass die transzendente Atmosphäre gewahrt wird.

Überträgt man die Personen auf die Märchenwelt, ist Flora aus dem Burgturm Rapunzel, und so wird sie auch von den anderen genannt. Linus möchte ein Prinz sein, aber Rapunzel findet, dass zu ihm als Sohn des Wirts eine Figur aus „Tischlein, deck dich“ besser passt. Berta ist selbstverständlich Frau Holle, die das einzig Richtige tut, um die Pechmarie aus dem Märchen zu erlösen, in dem sie sich schon gefangen fühlte, bevor die Situation mit der geheimnisvollen Goldmarie außer Kontrolle geriet.

Der „Schneeflockensommer“ - Marie friert viel, und auf den Gipfeln fällt sogar im Sommer ein wenig Schnee, der hier zu einer Metapher für Einsamkeit, Schuldgefühle, Verzweiflung, Selbsthass wird - gibt dem Mädchen Zeit, mit sich ins Reine zu kommen. Zuerst ist sie ängstlich und flieht, dann zornig und trotzig, aber zugleich auf dem Weg zur Akzeptanz, und weil sie etwas findet, das ihr viel bedeutet, endlich bereit, zu dem, was geschehen ist, zu stehen und um Vergebung zu bitten.

Obwohl das Buch nicht zu den sogenannten Spannungslektüren zählt, hat Barbara Schinko die Handlung so geschickt aufgebaut, dass doch ein Spannungsbogen zu finden ist. Alles, was Marie in dem abgelegenen Dorf erlebt, erfährt eine stetige Steigerung und treibt die Protagonistin immer weiter, bis alles aus ihr herausbricht und eine Entscheidung gefällt wird. Einfühlsam und nachvollziehbar wird beschrieben, was Marie empfindet und wie sie sich weiterentwickelt.

Man ist fasziniert von der komplizierten Geschichte des Mädchens und möchte den Roman erst aus der Hand legen, nachdem man die letzte Seite umgeblättert hat. Jugendliche ab 13 Jahre und erwachsene Leser halten mit „Schneelockensommer“ einen wirklich ungewöhnlichen, auf ganz eigene Weise fesselnden Band in den Händen, der auch als Schul-Lektüre geeignet ist.

Das umlaufende Coverbild, das man im Innern als Trennseiten zwischen den drei Teilen wiederfindet, ist eine sehr gute Wahl und passt hervorragend zu Titel und Inhalt.

Ein großartiges, dramatisches Buch, das man durchaus in die Rubrik All Age einordnen kann - und das neugierig macht, ob es noch weitere solche Perlen von Barbara Schinko gibt.

Übrigens wurde „Schneeflockensommer“ mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2016 ausgezeichnet.