Die große Macht des kleinen Schninkel (Comic)

Die große Macht des kleinen Schninkel
(Le grand pouvoir du Chninkel)
Text: Jean van Hamme
Zeichnungen: Grzegorz Rosinski
Übersetzung: Sylvia Brecht, Martin Budde
Splitter, 2015, Hardcover, 192 Seiten, 29,80 EUR, ISBN 978-3-95839-012-6

Von Frank Drehmel

Wer das aktuelle Splitter-Programm vor Augen hat, wird mit den Namen van Hamme und Rosinski sofort die europäische Fantasy-Serie schlechthin – zumindest was Langlebigkeit und Albenanzahl (incl. Spin-offs) betrifft – verbinden: „Thorgal“! Obgleich – oder möglicherweise auch weil – „Thorgal“ sich als so erfolgreich erwies, stand den beiden kreativen Köpfen rund 10 Jahre nach dem Beginn ihrer Zusammenarbeit der Sinn nach künstlerischer Veränderung, was auf der einen Seite die Lust an einer Schwarzweiß-Erzählung bedeutete und auf der anderen das Sprengen des üblichen Umfangs.

Als Resultat dieses Experimentes oder Wagnisses erblickte J’On das Licht der Welt, ein kleiner Schninkel, der ausersehen ist, die Last einer ganzen Zivilisation auf seinen Schultern zu tragen. Waren die Abenteuer des Helden tatsächlich zunächst in Schwarzweiß gehalten, erschien im Jahre 2001 die vorliegende unter Aufsicht Rosinskis kolorierte Fassung.

Auf der Welt Daar herrscht seit ewigen Zeiten ein grausamer Krieg zwischen drei unsterblichen Heerführern. Immer dann, wenn Sonne und Planet in einer bestimmten Konjunktion stehen, lassen Barr-Find Schwarzhand, Zembria die Zyklopin und Jargoth der Wohlduftende ihre sehr unterschiedlichen Streitkräfte auf einem gewaltigen Schlachtfeld einander niedermetzeln, wobei Leidtragende nicht nur die Krieger sind, sondern unzählige Sklaven aus dem Volk der kleinwüchsigen Schninkel.

Einmal mehr ist der Tag der Konjunktion gekommen; das Schlachtfeld ist mit toten, zerhackten, verstümmelten Körpern übersät, die Aasfresser halten ein Festmahl ab. Und doch regt sich inmitten der Leichenberge ein kleines Leben: der Schninkel J’On hat das Blutbad unverletzt überlebt, hadert jedoch mit seiner neugewonnen Freiheit in einer für ihn ausweglosen Situation. Unversehens wird er aus seinen trüben Gedanken gerissen, als sich der Schöpfer der Welten in Form eines schwarzen Quaders an ihn wendet, ihm den Auftrag erteilt, innerhalb von fünf Sonnenkonjunktionen die Welt zu befrieden, da er sie andernfalls auslösche, und ihm zu diesem Zweck große Macht verleiht.

Dass die große Macht möglicherweise etwas zu vollmundig versprochen wurde, erkennt J’On erstmalig, als er auf die einäugigen Amazonen Zembrias trifft. Zwar versucht er – vergeblich – die Macht zu beschwören, dennoch überlebt er das Treffen gleichsam nur zufällig, kann aber immerhin einen Pelztawal, einen großen „Affen“, aus der Versklavung befreien, ein Wesen, das ihm in ihrer kurzen gemeinsamen Zukunft ein loyaler Freund sein soll.

In der nachfolgenden Zeit befreit er eine junge Schninkel namens G’Wel aus den Klauen bösartiger Zwerge, die aus dem Krieg der Unsterblichen ihren Profit ziehen. Nicht nur, dass sich J’On in das zauberhafte Geschöpf verliebt, von ihr erfährt er auch von einem Stamm freier Schninkel in einem kargen Ödland. Die beiden reisen dort hin, damit J’On zuerst hier seiner Friedensbotschaft Gehör verschaffe. Doch der Stamm steht dem Auserwählten zwiespältig gegenüber. Zwar findet er einige Anhänger, dennoch sind er und G’Wel gezwungen, ihre Reise fortzusetzen, eine Reise zu den Wundern und phantastischen Geschöpfen Daars, zu den Unsterblichen, die der kleine Schninkel vereinen muss, eine Reise die ihn ob ihrer Aussichtslosigkeit immer mehr verzweifeln lässt, bis er schließlich erkennt, worin die verliehene große Macht besteht. Doch für J’On kommt diese Erkenntnis zu spät… und möglicherweise auch für die Welt.

Auch wenn Benoît Mouchart in seinem Vorwort zu diesem Sammelband die Geschichte, die vor mehreren Jahren schon sowohl als Schwarzweiß- als auch als Farbausgabe bei Carlsen erschienen ist, als „Theologic Fantasy“ bezeichnet, möchte ich mich dieser Kategorisierung nicht anschließen. Zwar nehmen Rahmenhandlung und Story-Aufhänger immer wieder explizit Bezug auf die christliche Mythologie und biblische Anleihen sind unübersehbar an mehreren Stellen eingestreut, doch gerade in der Fantasy ist generell ein religiöser oder quasi-religiöser Background üblich beziehungsweise Parallelen zu und Anleihen aus diversen Glaubensbekenntnissen nichts Ungewöhnliches. Das bedeutet, in vielen oder sogar den meisten Fantasy-Publikationen wird man religiöse Bezüge entdecken, ohne deshalb diese Werke als theologische Fantasy zu bezeichnen. Zudem erweisen sich die Inspirationsquellen, aus denen van Hamme schöpft, als sehr viel komplexer: so findet man Einflüsse aus „Der Herr der Ringe“, aus „2001 – Odyssee im Weltraum“ sowie – versteckt – weitere kulturelle beziehungsweise popkulturelle Reminiszenzen. Insbesondere die Konzeption der drei Unsterblichen und ihrer in ihren Eigenarten sehr unterschiedlichen Armeen erinnert stark an einschlägige Pen- & Paper-Rollenspiele. Ersetzt man also den Begriff theologische Fantasy durch Fantas“ wird man dem Werk in seiner ganzen bunten Vielschichtigkeit voll gerecht.

Van Hamme entwirft eine phantastische Welt voller Wunder und seltsamer, bizarrer Wesen, verliert dabei jedoch nie seinen kleinen Hauptprotagonisten aus den Augen. Dabei bedient sich der Autor eines humoristischen Grundtons, schreckt vor Pathos nicht zurück und scheut sich nicht, die Religion, auf die er sich zuweilen bezieht, kritisch zu hinterfragen und sie ins Absurde zu führen. Mit G’Wel stellt er seinem schwachen, zweifelnden und unsicheren Helden eine Gefährtin an die Seite, die J’On vorantreibt und ein ums andere Mal in ihm den Glauben an seine Stärke weckt, die ihm Hoffnung schenkt, wenn er resigniert. Und insofern ist G’Wel die eigentliche Heldin dieser epischen Geschichte, ist gleichsam der Samweis Gamdschie ohne dessen Stärke Frodos Ring-Quest zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.

Mit seinem Artwork liefert Rosinski eine nahezu perfekte Visualisierung der phantastische Geschichte ab: zunächst einmal weisen die Bilder jene große Tiefe in Bezug auf die Hell-Dunkel-Kontraste auf, die generell ein schwarzweißes Artwork spannend und dynamisch machen. Da die nachträgliche Kolorierung vergleichsweise zurückhaltend und mit eher gedeckten Farbtönen vorgenommen wurde, bleibt dieser spannende Schwarz-Weiß- beziehungsweise Hell-Dunkel-Kontrast fast zur Gänze erhalten. Zum Zweiten versteht es der Künstler, gigantische Schlachten mit zahllosen Protagonisten, ruhige, pittoreske Landschaften und monumentale Architektur gleichermaßen fesselnd in Szene zu setzen und diese Szenerien mit originell gestalteten Wesen zu bevölkern. Durchkomponierte Seiten und Bilder, wechselnde, cineastische Perspektiven sowie zahlreiche liebevolle Details tun ihr Übriges, um den Leser jenseits der Story zu fesseln.

Abgerundet wird diese exzellente Hardcover-Edition sowohl durch eine informative Einleitung, als auch durch einen nachgestellten Skizzenpart mit zahlreichen Konzeptzeichnungen Rosinskis.

Fazit: Eine phantastische, brillant visualisierte Geschichte voller Exotik und Wunder, die zwar mit religiösen Motiven aufwartet, der aber jeglicher Missionierungsgedanke fern liegt und die trotz eines pessimistisch-düsteren Endes voller Humor und Leichtigkeit ist.