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Thomas Neumeier: "Im Bann der Nebelflößer"

Das News-Aufkommen aus dem Bereich der Phantastik (egal ob in Sachen Literatur, Film & Serien, Comic etc.) wird in nächster Zeit vermutlich rückläufig sein. Rezensionen werden wir natürlich weiterhin online stellen. Bis auf Weiteres möchten wir unser Angebot aber um Kurzgeschichten erweitern. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren, die uns hierbei unterstützen.

Heute: „Im Bann der Nebelflößer“ von Thomas Neumeier


IM BANN DER NEBELFLÖSSER

von Thomas Neumeier

 

„Papa, was sind Nebelflößer?“
„Die Nebelflößer? Wo hast du denn von denen gehört?“
„Unten am Fluss. Heute, beim Spielen.“
An Theodans Fersen hetzte Herbert, so schnell es ihm seine schwindenden Kräfte noch erlaubten, durch den lichtlosen Wald. Der Sack auf seinem Rücken lastete schwer, außerdem verursachte er bei jedem Schritt ein verräterisches Klimpern. Hierin mochte es sich als Gunst erweisen, dass ihre Verfolger beritten waren und die Hufe ihrer mächtigen Rösser das Klirren und Scheppern der erbeuteten Gegenstände übertönten, wenn sie durch die fortwährenden Erschütterungen gegeneinander begehrten. Herbert vernahm ihre Häscher dennoch bereits beunruhigend nah, vielleicht hinter ihnen, vielleicht auch irgendwo neben ihnen. Noch einmal sah er sich nach Dornhub um, konnte ihn aber nicht erspähen. Hatten sie ihn etwa schon erwischt? Herbert versuchte, den Gedanken zu verscheuchen und setzte alles daran, mit Theodan Schritt zu halten. Theodan war der Waldkundigste von ihnen, und Herbert bezweifelte, dass er ohne ihn den verabredeten Sammelplatz am Fluss finden würde.
Eine Baumwurzel brachte Herbert in vollem Lauf zu Fall. Das Gewicht des Beutesacks schmetterte ihn bäuchlings zu Boden und verursachte dabei ein ungeheures Geschepper. Schmerzen an Knie und Ellenbögen und nicht zuletzt an seinen Rippen lähmten ihn und schnürten ihm einige Augenblicke lang die Atemluft ab.
Theodan kam zurückgeeilt. „Idiot!“, fauchte er und wälzte den Sack von Herbert. „Na los, steh auf!“
Benommen versuchte Herbert, den Befehl auszuführen, was ihm nur unter unmenschlichen Anstrengungen gelang. Noch überaus wackelig auf seinen Beinen wuchtete ihm Theodan schon wieder den Beutesack in die Hände. „Los, weiter!“, zischte er und nahm Schritt auf.
Herbert aber verharrte an Ort und Stelle, gebannt von der schwarzen Silhouette eines Reiters, die keine zwanzig Schritte entfernt zwischen den Bäumen Form annahm. Das bittere Ende dieser zerfurchenden Hatz vor Augen und den eisigen Hauch des Todes im Genick, ließ Herbert den Sack sinken. Sie waren entdeckt. Nun gab es kein Entrinnen mehr. Er sah, wie der gesichtslose Reiter sein Schwert zog. Das geringe Sternenlicht, das die Baumkronen durchstieß, ließ die Klinge kurz aufblitzen.
Dann gellte ein Schrei durch die nachtschwarze Firnis des Waldes. Herbert fuhr herum und sah eine bucklige Gestalt aus dem nahen Dickicht hetzen. Erst als sie sich entfernte, durchschaute er, dass dieser Buckel ebenfalls ein Sack war. Der Fliehende war Dornhub. Brüllend wie ein vom Wahnsinn gepackter Berserker rannte er den Weg zurück, den sie gekommen waren, und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Reiters auf sich. Der stieß nun ebenfalls einen Schrei aus und rief seine Sinnesgefährten zu sich. Gleich darauf gab er seinem Pferd die Sporen und jagte – sein Schwert schwingend – Dornhub hinterher. Weitere Silhouetten aufgebrachter und zur Mordlust angestifteter Reiter huschten schattengleich hinter Büschen vorüber.
„Jetzt komm schon!“ Theodan war plötzlich wieder da, packte Herbert an seiner Weste und zerrte ihn mit sich. Er ließ es geschehen. In unferner Finsternis kam das Getrappel der schweren Hufe jäh zur Ruhe. Schwerter sangen schrill, als sie ihre Scheiden verließen. Herbert vernahm einen markerschütternden Sterbensschrei. Einer, der noch lange in ihm nachhallte.
Der Pfad schlängelte sich durch unwegiges Dickicht. Dornhub hatte ihnen etwas Zeit verschafft, doch die dumpf den Waldboden marternden Hufe waren schon wieder nahe. In Herberts Ohren rumorten sie wie ein aufziehendes Gewitter.
„Da runter!“, befahl Theodan und schlüpfte durch eine Schneise im Buschwerk auf eine steil abfallende Böschung. Herbert stolperte ihm nach. Endlich lichteten sich die Baumkronen, und der Fluss kam in Sichtweite. In seinem sanft rauschenden Wasser spiegelte sich der Sternenschein wider. Theodan eilte auf das Ufer zu. Von mannshohen Felsen geschützt, wartete wie vereinbart der Flößer auf sie.
„Das hat aber gedauert“, grummelte der dickliche junge Mann, den sie tags zuvor in einer verkommenen Spelunke kennengelernt hatten.
„Ablegen! Ablegen!“, befahl Theodan, wuchtete seinen Beutesack auf das Floß und sprang hinterher. Dann fuhr er zu Herbert herum und hielt die Hände auf, bereit, den zweiten entgegenzunehmen. „Na los, gib schon her!“
Herbert zögerte einen Moment, doch dann tat er, wie ihm geheißen. Theodan nahm den Sack entgegen. Keinen Augenblick später folgte Herbert nach. Das Floß setzte sich in Bewegung.
Im Licht der Sterne sah Herbert seinen Kumpan grinsen. „Wir haben es geschafft, alter Freund!“ Er schlug Herbert kameradschaftlich auf die Schulter.
Herbert war noch völlig außer Atem. „Dornhub nicht“, merkte er bitter an.
„Ja, schade um ihn“, sagte Theodan. „In seinem Sack war das Silberbesteck, nicht?“
„Ich bestehe auf dem abgemachten Anteil“, stellte der Flößer klar, während er sein schlicht geplanktes Gefährt mit dem Lenkruder weiter vom Ufer entfernte. „Schade, dass ihr euren Freund verloren habt, aber dafür kann ich nichts. Ich will trotzdem den vollen Anteil.“
„Ja, natürlich“, beschwichtigte ihn Theodan. „Du bekommst, was wir vereinbart haben. Und jetzt bring uns nach Mitrindar.“
Herbert schaute zum Ufer zurück. An der Stelle, an der das Floß gerade noch gelegen hatte, erspähte er die Umrisse eines Berittenen.

*

„Die Nebelflößer gibt es nicht. Das ist nur eine Spukgeschichte, mein Junge.“
„Erzähl sie mir!“
„Nein, nicht jetzt. Du würdest sonst womöglich nicht schlafen können. Morgen vielleicht.“

*

Als sie in Mitrindar einliefen, graute bereits der Morgen. Nebelschlieren zogen über das Wasser. An den Stegen brannten vereinzelte Fackeln, hinter manchen Häuserfenstern glommen Ölfunzeln, und in den Schatten gingen dunkle Gestalten ihrem frühen Tagewerk nach. Von einem Bergkessel umschlossen, gab es nur einen einzigen Pass, der auf dem Landweg in die große Flussstadt führte. Seilbewährte Holzbrücken verbanden die Stege zu beiden Uferseiten, und zahlreiche Bauten, vor allem die Holz- und Wolllager, waren auf mächtigen Stelzen über dem sanft dahinziehenden Wasser gebaut, damit die Kähne einfach und schnell beladen werden konnten. Nur wenige Meilen flussabwärts begann sich der breite Strom zu zerteilen und nahm in zahllosen Nebenströmen zwischen steilen Felswänden seinen Weg nord- und ostwärts. Es war nicht Herberts erster Aufenthalt in Mitrindar, doch er war bislang nie darüber hinausgekommen. Zahlreiche Heimatlose und Gejagte fanden sich hier ein, deren Leben davon abhing, nicht den Schergen der südlichen Pfalzgrafen in die Hände zu fallen. Die meisten, die in Mitrindar Zuflucht suchten, taten das mit dem Ziel, nordwärts zu fliehen. Doch gelang es nur wenigen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Theodan hatte lange geschlafen. Nun aber, wo sich an den Ufern die ersten nebelumgarnten Bauten formten, fuhr er hoch. „Wir sind da“, wisperten seine von einem struppigen Bart umwobenen Lippen. „Dieses Mal steht uns der Weg an die nördlichen Gestade offen.“
Herbert wusste, dass er dabei an die Flusszölle dachte, die sie weiter nördlich entrichten mussten. Mit der Beute würden sie sie aufbringen können. Sie sollte außerdem genug sein, um davon eine Weile gut zu leben. Im Gegensatz zu Theodan hatte Herbert in den vergangenen Nachtstunden keinen Schlaf gefunden. Er dachte unentwegt an Dornhub, der sich für sie geopfert hatte. Ein edler Zug, den er Theodan nicht zutraute. Und auch sich selbst nicht.
Auch ihr junger Flößer hatte nicht geschlafen, um sie nicht versehentlich auf ein Riff zu setzen. Müde und verwahrlost saß er mittig am Heck und hielt das Floß auf Kurs.
„Los, bring uns an Land!“, befahl Theodan in seinem wiederkehrenden Siegestaumel. „Ich gebe dir einen Humpen Met aus!“ Dann fuhr er zu Herbert herum und bedeutete ihm mit beiden Zeigefingern. „Und dir, mein Freund, gebe ich ein ganzes Fass aus!“
„Später“, gab Herbert zur Antwort. „Ich muss mich erst hinlegen.“
„Ich will jetzt auch keinen Met“, sprach der Flößer. Sein Name war Magmog. „Gebt mir den versprochenen Anteil, dann setze ich euch ab, wo ihr wollt.“
„Du könntest deinen Anteil noch erhöhen, wenn du uns weiterfährst.“
„Nein!“, schallte Magmog entschieden zurück. „Weiter fahre ich nicht! Weiter fahre ich nie! Jetzt gebt mir meinen Anteil!“
Theodan und Herbert verständigten sich durch Blickkontakt, die Säcke zu öffnen. Zwei silberne Kerzenständer, eine Tabakdose und ein Beutel mit vierzig Silbertalern wechselten in Magmogs Umhängetasche.

*

In einem Wirtshaus bezogen Herbert und Theodan noch in den Morgenstunden Quartier. Auf Heu gebettet und seinen Beutesack fest umschlossen, gelang es Herbert, einige Stunden lang zu schlafen. Als er aufwachte, fand er sich allein in ihrer Stube vor. Seinen Beutesack hatte er zurückgelassen, doch Theodan war fort. Offensichtlich vertraute er Herbert genug, ihn mit der Beute allein zu lassen. Umgekehrt hätte Herbert das nicht gewagt. Er trat ans Fenster. Der Nebel war inzwischen allumfassend. Das gegenüberliegende Ufer war nicht zu erspähen. Die Brücken und Stege verloren sich in grauem Nichts. So viel Nebel hatte Herbert noch nie gesehen.
In der von Pfeifenrauch geschwängerten und nur mäßig gefüllten Schankstube ihres Wirtshauses fand Herbert Theodan allein an einem Tisch in der Ecke sitzend vor. Ihm war deutlich anzumerken, dass er schlechte Laune hatte. Herbert setzte sich zu ihm. An den anderen Tischen und am Wirtstresen wurde geraucht, getrunken, gewürfelt und gemurmelt.
„Wir kommen hier so bald nicht weg, fürchte ich“, brummte Theodan griesgrämig. „Bei dem Nebelaufkommen will es kein Flößer mit den Stromschnellen weiter nördlich aufnehmen. Sie haben Angst, falsche Abzweigungen zu nehmen oder in gefährliche Strudel zu geraten.“
„Ich wusste nicht, dass die Nebenströme so gefährlich sind“, sagte Herbert.
„Sind sie nicht. Erbärmliche Feiglinge, allesamt“, schimpfte Theodan und spuckte auf den Wirtshausboden. „Ich bin schon recht weit in der Stadt rumgekommen, habe bislang aber niemanden gefunden, der uns fahren will. Versuche du es, vielleicht hast du mehr Glück als ich.“
Herbert wog den Vorschlag ab, wobei in ihm der Verdacht keimte, dass Theodan ihn vielleicht nur deshalb fortschicken wollte, um allein mit der Beute fliehen zu können. Womöglich hatte er unlängst einen Flößer bezahlt, der nur auf ihn wartete. Zu weiteren Überlegungen kam Herbert nicht, denn die Wirtshaustür wurde aufgestoßen, und ein zerlumpter, bärbeißiger Mann stolperte herein. „Graf Mordikays Schergen sind in der Stadt!“, rief er aus, womit ihm prompt alle Aufmerksamkeit zuteilwurde. „Sie suchen jemanden! Und sie töten! Vorhin haben sie einem jungen Flößer den Kopf abgehauen.“
Herberts und Theodans Blicke fanden zueinander. Keiner sprach es aus, doch Herbert wusste, von welchem Flößer die Rede war. Sie mussten bei Magmog jenen Teil der Beute gefunden haben, den sie ihm für die Fahrt überlassen hatten.
„Wer hat sie in die Stadt gelassen?“, blaffte der Wirt, ein graubärtiger Hüne, der unentwegt Pfeife rauchte.
„Sie haben wohl ein großzügiges Entgelt entrichtet“, erwiderte der Zerlumpte. „Es heißt, sie suchen nach zwei Dieben. Der Flößer scheint denen geholfen zu haben.“
Der Blick des Wirts wanderte zu Herbert und Theodan. „Ihr zwei da!“, donnerte er. „Was könnt ihr dazu sagen?“
„Gar nichts können wir dazu sagen“, raunte Theodan feindselig zurück.
Herbert hingegen senkte den Kopf. Er wusste, in seinen Augen würden die Anwesenden die Wahrheit lesen können: Dass sie es waren, die so dreist und möglicherweise dumm gewesen waren, Graf Mordikays Landsitz auszurauben, und dass seine mordlustigen Häscher ihretwegen in die Stadt gekommen waren.

*

„Nein, Papa, ich will die Geschichte jetzt hören! Bitte! Ich kann trotzdem einschlafen! Und ich werde auch nicht davon träumen! Versprochen!“
„Also gut. Du gibst ja doch keine Ruhe. Zunächst mal: Es ist nur eine Geschichte. Die Nebelflößer gibt es nicht.“
„Aber am Fluss war heute ein alter Mann, der gesagt hat, dass es sie schon gibt!“
„Der wollte euch Bengeln nur ein wenig Angst machen.“  

*

Mit ihren schweren Beutesäcken auf dem Rücken stahlen sich Herbert und Theodan durch die nebelverschleierte Stadt. Zu den Brücken und Stegen hielten sie geflissentlich Abstand, wähnten sie vor allem dort die Schergen des Grafen. Wann immer sich eine Gestalt in den gräulich weißen Schwaden abzeichnete, wechselten sie die Richtung oder gingen hinter Fässern, Kisten oder einer Scheune in Deckung, gleichwohl es meistens nur Waschweiber waren, die ihren Weg kreuzten.
Ihr Ziel war das Nordende der Stadt. Wenn sich schon kein Flößer fand, der sie von hier fortbrachte, hofften sie zumindest auf eine vorübergehende Zuflucht in den verschlungenen Felsschluchten, in der die finsteren Reiter Mordikays sie mit etwas Glück nicht suchen würden. Die beiden schlichen auf leisen Sohlen, konnten jedoch nicht verhindern, dass die Schätze in ihren Säcken immerfort lärmten, so als begehrten sie in die Hände des Grafen zurück.
Der todesverheißende Laut einer Klinge, die ihre Scheide verlässt, ließ Herbert vor Schreck fast erstarren. Er fuhr herum. Doch da waren nichts außer Nebel und die vagen Konturen von spitz zulaufenden Hausdächern. Nichtsdestotrotz konnte der Geselle, der die Klinge führte, nicht weit sein. Wahrscheinlich hatte das Geschepper der Beutesäcke ihre Flucht verraten. Durch die schmale Gasse zwischen zwei Häusern hasteten die beiden weiter, als Herbert schon das bedrohliche Geklapper mächtiger Pferdehufe hinter sich vernahm. Die dunkle Silhouette eines Reiters formte sich am Ende der Gasse. Zum Glück war der Durchgang zu schmal, um ihn zu Pferde zu begehen.  

*

„Also, wer sind nun die Nebelflößer?“
„Du hast doch schon von der Stadt Mitrindar gehört, oder?“
„Ja. Die liegt flussabwärts.“
„Genau. Bis dahin fließt der Fluss breit und stet. Aber nach Mitrindar, da verzweigt er sich. Und das viele Male. Die meisten Ströme führen an die nördlichen Gestade, andere fließen ostwärts und tränken die großen Wälder, die es dort gibt. Manche Ströme wiederum verlieren sich ohne Ziel in den Steinschluchten und graben sich unterirdische Wege. Und einige Ströme, tja, die führen an Orte, die wir uns nicht vorstellen können.“
„Warum nicht? Das verstehe ich nicht.“
„Die Leute in Mitrindar sagen, einige Ströme führen ins Nichts. An seelenlose Orte, in denen schreckliche Dinge passieren. Flößer, die sich dorthin verirren, werden unter furchtbaren Qualen und Schmerzen ihrer Seelen beraubt. Deshalb ziehen niemals bei Nebel und schlechter Sicht Flöße von Mitrindar nordwärts. Die Flößer haben Angst, sich in einen der verhängnisvollen Nebenströme zu verirren.“
„Kann man denn nicht mehr umkehren, wenn man merkt, den falschen Strom genommen zu haben?“
„Die armen Flößer kehren allenfalls als Untote wieder. Leb- und leidenschaftslos, aber doch nicht tot. Tja, und das sind die Nebelflößer. Es heißt, bevorzugt beführen sie den Fluss bei Nebel, um dann andere in die verfluchten Orte zu entführen, aus denen sie geschickt wurden. Sie locken sie auf ihr Floß und bringen sie auf die grausigen Pfade zwischen den Strömen.“

*  

Herbert und Theodan hetzten durch schmale Klüfte, Klausen und Kavernen, die am nördlichen Stadtende dem Flusslauf folgend einem unüberwindbaren Felsmassiv entgegenstrebten. Die Hufschläge mächtiger Pferde, die die beiden Diebe eine Weile begleitet hatten, waren verklungen, doch Herbert vernahm nun klimpernde Stiefel, die ihnen durch die unwegigen Steinlandschaften folgten. Es gab voraus keinen Ausweg aus den Schluchten, wie Herbert wusste. Sie alle endeten in Sackgassen oder mündeten am Wasser, manche früher, manche später. Abgesehen von dem Fluss gab es nur einen einzigen Pass, der aus Mitrindar hinausführte, und der nahm am entlegenen Ende der Stadt seinen Anfang. Ihre einzige noch verbliebene Hoffnung war, irgendwo ein Versteck zu finden und Graf Mordikays Schergen zu täuschen. Denen aber eilte der Ruf voraus, unerbittlich wie gnadenlos zu sein. Herbert war sich gewiss, lieber die Beute aufzugeben und sich ins Wasser zu stürzen, als sich ihnen auszuliefern. Kaum hatte er dieses Vorhaben zu Ende gedacht, kam der Fluss in Sicht. Beharrlich und träge nahm der große Strom seinen Weg nordwärts. Von dichtem Nebel verhangen, reichte die Sicht kaum ein paar Schritte weit. Doch dort draußen im grauen Nichts glomm ein fahles Licht.
„Sieh mal! Sieh mal!“, keuchte Theodan atemlos und deutete hinaus. „Das muss ein Floß sein! Offenbar sind nicht alle so feige wie diese Bande in den Wirtshäusern!“
Herbert, nicht weniger außer Atem als sein Kumpan und allmählich aller Kräfte ledig, teilte seine Einschätzung. Dort draußen in den Nebeln dümpelte offenbar ein laternenbehangener Kahn.
„Hey, du! Komm her!“, rief Theodan, stellte seinen Beutesack ab und begann wie wild zu winken. „Hörst du mich? Wir sind hier am Ufer! Bitte nimm uns auf! Wir bezahlen dich gut! Aber es muss schnell gehen! Hast du gehört?“
Eine Antwort erfolgte nicht, Herbert glaubte jedoch, das Licht bald heller leuchten zu sehen.
„Hallo?“, rief Theodan erneut. „Hast du verstanden, du da draußen? Hol uns hier ab! Es soll nicht dein Schaden sein!“
Tatsächlich kam die Nebellaterne näher. Nur Momente später erkannte Herbert die schlierenhafte Kontur eines Mannes, der einen sorgfältig gearbeiteten Kahn ans Ufer lenkte.
„Danke, Freund!“, rief Theodan. „Wir werden dir diesen Dienst reichlich vergüten!“
Der Flößer verstand es, sein Gefährt bewundernswert präzise zu führen. Kaum mehr als eine Handbreit, bevor die hölzernen Planken ans felsige Ufer schlugen, verlor es an Fahrt und blieb ruhig im Wasser liegen. Mit einem weichen, einladenden Wink komplimentierte der Mann am Heck Herbert und Theodan an Bord.
Theodan warf seinen Beutesack hinüber und sprang hinterher. Die nahenden Schritte der Stiefel von Graf Mordikays blutgierigen Söldnern in den Ohren tat es ihm Herbert augenblicklich gleich. Schon nahm der Kahn wieder Fahrt auf und entfernte sich vom Ufer. Die mit langen Klingen bewaffneten Männer, die dort kurz darauf Gestalt annahmen, konnten ihnen über das Wasser nicht folgen.
„Hab Dank, mein Freund!“, lobte Theodan ihren Retter ausgelassen. „Wir werden dich für diese Geste angemessen entlohnen! Jetzt bring uns nordwärts! Weit fort von hier!“
Unter seiner Kapuze nickte der Flößer gewogen und lenkte sein Gefährt weiter zur Flussmitte hinaus, fort von den von Mordikays finsterer Schar verheerten Ufern.

*  

„Sind das dann wirklich Untote, wenn sie wiederkehren?“
„Aber nein, nicht doch. Es gibt keine Untoten. Und auch keine Nebelflößer. Das alles ist nur eine Geschichte.“
„Aber der alte Mann heute am Fluss hat gesagt, dass er sie schon mal gesehen hat, die Nebelflößer. Er hat gesagt, dass es sie wirklich gibt.“
„Das ist Unsinn. Der wollte euch nur Angst einjagen. Wer war denn dieser alte Mann?“
„Weiß ich nicht. Er hat recht komisch ausgesehen. Und auch komisch geredet. Ich glaube, er war erkältet.“
„War es vielleicht einer aus dem Bergdorf? Hast du ihn früher schon mal gesehen?“
„Nein. Er ist mit einem Floß gekommen. Er hat gesagt, er heißt Herbert. Und dass er von weit herkommt. Morgen will er uns zu einer Floßfahrt mitnehmen.“

ENDE

 

„Im Bann der Nebelflößer“ erschien zuerst in der von Alisha Bionda herausgegebenen Anthologie „Einhornzauber“ (Ashera). © 2020 Thomas Neumeier

Thomas Neumeier, geboren in Neumarkt in der Oberpfalz, lebt als freiberuflicher Publizist und Bürokaufmann im schönen Beilngries im Altmühltal. Er schreibt Romane und Kurzgeschichten. Seine Krimis sind u.a. bei Emons erschienen.