George R. R. Martin: Traumlieder II (Buch)

George R. R. Martin
Traumlieder II
(Dream Songs, 2003)
Deutsche Übersetzungen von Maike Hallmann, Lore Straßl und Susanne Grixa, Rainer Gladys, Eva Bauche-Eppers, Michael Fehrenschild, Michael Windgassen, Jürgen Langowski, Joachim Körber, Hannelore Hofmann und Berit Neumann
Heyne, 2015, Paperback, 624 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-31625-6 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Die vorliegende Sammlung von autobiogaphischen Essays, Storys und Novellen enthält 11 Geschichten des US-amerikanischen Autors und drei Texte, in denen der Autor erneut von seiner Sozialisation, vor allem seiner literarischen, berichtet. Während die drei Sachtexte für den deutschen Leser neu sind, sind alle Erzählungen schon vormals auf Deutsch erschienen, teilweise mehrfach.

Da diese jedoch meistenteils in irgendwelchen Anthologien veröffentlicht wurden (zum Beispiel „Die Affen-Kur” in „Das Fest des heiligen Dionysos” von Werner Fuchs herausgegeben, „Nachtgleiter” bei Moewig in „Kopernikus“ 2 unter dem Titel „Die Expedition der Nachtfee” und bei Heyne in einer Anthologie von Terry Carr mit dem Titel „Die schönsten Science Fiction Stories des Jahres“ Band 1 als „Nachtflieger” und so weiter), dürften viele Leser diese kleinen (oder was die lange Novelle „Nightflyer” anbetrifft mit über 140 Seiten auch großen) Pretiosen vielleicht sogar erstmals genießen dürfen.

Lediglich die berühmte Novelle „Sandkönige” („Sandkings”), laut Martins Auskunft nicht nur für die Serie „Outer Limits – Die unbekannte Dimension“ verfilmt (wobei er selbst das Drehbuch schreiben durfte), sondern auch seine meist abgedruckte Geschichte, erschien zum Beispiel bei Ullstein unter dem gleichnamigen Titel als Bestandteil einer Sammlung mit Erzählungen des Autors (wurde aber auch bei Heyne schon mehr als einmal veröffentlicht in mindestens zwei Anthologien, so zum Beispiel im „Science Fiction Jahrbuch 2000“ und im „Science Fiction Story-Reader“ 18).

Während die ersten drei Geschichten der Fantasy zuzurechnen sind (aber alle auch mehr oder minder ausgeprägte Horror-Elemente aufweisen), folgen dann sechs Werke, in denen der Gruselfaktor, wenn auch meist mit Science Fiction vermischt, noch deutlicher im Mittelpunkt steht. Danach kommen noch zwei Storys um den Händler Haviland Tuf, welche die meisten Leser aus dem Episoden-Roman „Der Planetenwanderer“ bereits kennen dürften. Ich erspare es mir hier, auf diese einzugehen, da das Buch erst 2013 vollständig bei Heyne erschienen ist und jeder, der Tuf sympathisch findet, unbedingt zu diesem „Gesamtwerk” greifen sollte.

Der Reigen beginnt mit der sehr atmosphärischen aber eher ideenschwachen Story „Die einsamen Lieder Laren Dorrs” (im Original „The lonely songs of Laren Dorr”), welche in Deutschland dereinst in „Terra Fantasy“ 88 unter dem Titel „Der dunkle König“, herausgegeben von Lin Carterm bei Pabel erschienen ist. Berichtet wird von einem einsamen Menschen, der in einer furchterregenden Dimension gefangen ist, die er nie verlassen kann. In seiner sicheren Burg empfängt er eine reisende junge Frau, die es aus Versehen zu ihm verschlagen hat. Leider kann sie ihm nicht helfen, sondern nur seinen traurigen Liedern lauschen...

In „Der Eisdrache” („The ice dragon”) wird von einem kleinen Mädchen berichtet, das sich von klein auf zu Drachen hingezogen fühlt, die kein Feuer speien, sondern mit ihrem Atem Eis erzeugen. Bei einem Angriff auf ihre Heimat gelingt es dem von ihrer Familie abgelehnten Mädchen, viele zu retten, indem sie mit einem Eisdrachen gegen die Feuer speienden Angreifer kämpft, auch wenn der Preis dafür hoch ist...
Eine bestrickende, sehr zauberhafte Erzählung voller Tragik, Atmosphäre und guter Ideen (erschienen unter anderem in der von Margret Weis herausgegeben Anthologie „Drachenfüttern verboten“ bei Bastei Lübbe).

Nicht ganz so glänzend, aber ebenfalls unterhaltsam ist „Das verlassene Land” („In the lost lands”), in der die Erfüllung eines Wunsches einer Herrscherin allen Beteiligten Verdruss bringt, auch dieser mächtigen Frau selbst (hierzulande unter anderem veröffentlicht in der von Jessica Amanda Salmonson herausgegebenen Anthologie „Neue Amazonen-Geschichten“ bei Bastei Lübbe).

„Der Fleischhausmann” („The meathouse man”) ist eine von drei Erzählungen Martins (die beiden anderen, nämlich „Niemand verlässt Neu-Pittsburgh” und „Überlagerung” sind hier leider nicht zu finden, erstere wurde bei Ullstein unter dem Titel „Visionen von Morgen“, herausgegeben von Ronald M. Hahn, veröffentlicht, letztere befindet sich in Martins Sammelband „Die zweite Stufe der Einsamkeit“, der bei Moewig erschienen ist), die das Zombie-Motiv auf sehr moderne Art und Weise variieren.
In der Zukunft ist es möglich, Leichen neural zu steuern und sie Arbeiten ausführen zu lassen. Vor allem natürlich gefährliche oder stumpfsinnige Tätigkeiten. Berichtet wird aus dem Leben eines unglücklichen Mannes namens Trager, der schon als junger Mensch zum Führer dieser Zombie-Arbeiter wird. Zwar kann man mit den hübschen, körperlich perfekten (keine verfaulten Körperstellen oder ähnliches, denn hier geht es um gut gepflegte Arbeitskörper) Toten als Kontroller wunderbaren Sex haben, aber Trager sehnt sich nach der großen Liebe. Als er sie findet, beruht sie leider nicht auf Gegenseitigkeit. Aber eine andere Frau scheint seine Rettung zu sein, bis sie ihn verlässt, woraufhin Trager immer mehr vor die Hunde geht, während er äußerlich nur um so erfolgreicher erscheint. Aber sein Herz bleibt leer...
Diese Geschichte wurde schon mindestens zweimal vorher bei Heyne publiziert, nämlich im von Wolfgang Jeschke herausgegebenen „Heyne Science Fiction Magazin“ Band 2 und in einer von Paul M. Sammon herausgegebenen Anthologie mit dem Titel „Splatterpunk“ 2.
Diese herzzerreißend melancholische Geschichte ist eine absolute Meisterleistung des Autors und zweifellos ein Highlight dieser Sammlung.

Die nachfolgende Gespenstergeschichte von der rachsüchtigen Ex-Kommilitonin wurde schon mindestens zweimal bei Heyne veröffentlicht (einmal in der hier vorliegenden Übersetzung von Jürgen Langowski in der Anthologie „Das digitale Dachau“, von Wolfgang Jeschke herausgegeben, ein andermal in dem Band „Dämmerlicht“ mit Storys aus dem „Twilight Zone“-Magazin, diesmal allerdings übersetzt von Rolf Jurkeit). „Erinnerungen an Melody” („Remembering Melody”) ist wahrlich eine Story, die dem Leser die Zornesader anschwellen lassen kann. Der Fluch einer egoistischen, rücksichtslosen Frau ruiniert drei Menschen das Leben.

Nach der „berühmten” Novelle „Sandkönige” („Sandkings”), die zeigt, wohin Grausamkeit in der Haltung von Haustieren führen kann (und eine Variante der berühmten Story „Microcosmic God” von Theodore Sturgeon darstellt beziehungsweise auch das filmische Vorbild nicht leugnen kann, erinnert sie doch stark an eine berühmte Episode aus der dritten Staffel der Originalserie „The Twilight Zone“, welche von Rod Serling, dem Schöpfer der Serie, erdacht worden war; Folge 93 mit dem Titel „The little people”, in Deutschland unter dem Titel „Der Mann der Gott sein wollte” gelaufen und vom Autor bestimmt in seiner Jugend gesehen), folgt dann eine weitere Novelle von fast Romanlänge, hier von Maike Hallmann neu übersetzt, da es sich um die Langversion dieser Geschichte handelt. „Nachtgleiter” („Nightflyer”) berichtet von einer Weltraum-Expedition, die zum Todeskampf für die beteiligten Wissenschaftler wird.
Eigentlich hatte man eine Fremdrasse erforschen wollen, aber ein Rachefeldzug an Bord des Raumschiffs macht fast alles zunichte. König Ödipus lässt hier schön grüßen, gewisse Ähnlichkeiten mit dem berühmten SF-Film „Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ sind aber rein zufällig, da Martin diesen beim Schreiben wohl noch nicht kannte. Ein starkes Stück Horror-SF und unbedingt empfehlenswert.

Danach folgt ein weiteres Highlight, die humorvoll-gruselige Story „Die Affen-Kur” („The monkey treatment”), stilistisch brillant und süffisant erzählt und möglicherweise Ideengeber für Stephen Kings Roman „Thinner „(dt. als „Der Fluch“ unter dem Pseudonym Richard Bachmann), der einen ähnlichen (wenn auch nicht ganz so originellen) Plot gewählt hat. Ein dicker Mensch lernt eine Abmagerungskur kennen, die ihn fast das Leben kostet.

Schließlich folgt noch „Der birnenförmige Mann” („The pear-shaped man”), eine eher konventionelle Horror-Geschichte, die ihre Wirkung vor allem aus dem schleichenden Spannungsaufbau bezieht.
Der unheimliche Mieter im Souterrain versetzt eine junge Frau in Angst und Schrecken. Aber eigentlich ist alles noch viel schlimmer...
Erschienen ist diese Story bei Bastei Lübbe unter dem Titel „Das neue Buch der Fantasy „herausgegeben von Ellen Datlow und Terry Windling.

Der vorliegende Band schließt dann, jenseits der Seite 500, mit den beiden erwähnten Geschichten um Haviland Tuf ab.

Vor allem die Erzählungen des mittleren Teils bestechen durch ihre prägnante Atmosphäre, wobei es Martin erneut meisterhaft schafft, den Leser zu emotionalisieren. Oft sind die Geschichten traurig und schwermütig, vermitteln aber auch das starke Gefühl von Angst und Bedrohung. Auch Verzweiflung, Überforderung, Wut und Misstrauen spielen wie so oft beim US-Amerikaner eine wichtige Rolle, und George R. R. Martin ist ein Spitzenkönner, diese Melange aus Emotionen und Gedanken dem Leser zu vermitteln.

Wer die Erzählungen Martins noch nicht kennt, dem eröffnet sich auch im zweiten Band wieder ein äußerst lebendiges und dabei zudem noch intelligentes Universum fremder Welten, die auch in diesem Fall wieder eine Reise wert sind. Schön, dass diese literarischen Kostbarkeiten hier endlich einmal gesammelt vorliegen!