James S. A. Corey: Leviathan erwacht (Buch)

James S. A. Corey
Leviathan erwacht
(Leviathan Wakes – The Expanse Series Book 1)
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski
Heyne, 2012, Paperback, 654 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-52931-1 (auch als eBook erhältlich)

Von Thomas Harbach

Mit „Leviathan erwacht“ legt Heyne den ersten Band einer neuen Space-Opera-Serie vor, die über weite Strecken den politisch bodenständigen Realitäten von Paul McAuleys letztem Doppelband („Der stille Krieg“/“Sonnenfall“) folgt. Erst in der zweiten Hälfte des vorliegenden Auftaktromans kommen außerirdische Einflüsse zum Tragen, wobei das Gesamtkonzept etwas aus der bis dahin sehr zufriedenstellenden Balance gerissen wird und ein überambitionierter Eindruck im Leser hängenbleibt.

James S. A. Corey sind Ty Frank und Daniel Abraham, letzterer lebt in Albuquerque, New Mexico. Seit 1996 veröffentlich Abraham regelmäßig Kurzgeschichten. Hinzu kommt eine Reihe von Fantasy-Zyklen und eine Comic-Adaption von George R. R. Martins „Das Lied von Eis und Feuer“. Sein Werk ist sowohl für den Hugo – die zweite Nominierung erhielt er für den hier vorliegenden Roman – als auch den Nebula sowie den World Fantasy Award nominiert worden. Die „Expanse“-Trilogie, von der „Leviathan erwacht” der Auftaktband ist, wird bis 2013 mit „Caliban’s War“ sowie „Abbadon’s Gate“ abgeschlossen.

Die Menschheit hat das Sonnensystem besiedelt. Die Erde ist zwar immer noch mit knapp 30 Milliarden Bewohnern das Zentrum, aber insbesondere der Mars und die Bewohner des Asteroidengürtels haben sich in den unwirtlichen Umgebungen selbstständig gemacht. Während die Gürtler die Asteroiden und Monde nach wertvollen Bodenschätzen absuchen, sind sie auf die Versorgung von der Erde und dem Mars angewiesen. Notgedrungen arbeiten die drei Gruppen zusammen. Der Roman beginnt mit einer verängstigten jungen Frau, die sich seit Tagen auf einem überfallenen Frachter im All herumtreibt. Obwohl Juliet wie sich später herausstellt mehr oder minder unfreiwillig im Mittelpunkt des Geschehens steht, wird sie zu einer Art MacGuffin, bis sich die Autoren entscheiden, den Leser zu schockieren und doch angesichts der Gentechnik auch an der Nase herumzuführen.

Nach dem dramatischen Auftaktkapitel beginnt der Autor sehr geschickt, die Handlung auf zwei sehr stringent geschriebenen Handlungsbögen dramatisch zu erweitern, deren Protagonisten Miller und Holden, ohne dass sie es wissen, untrennbar miteinander verbunden werden. Dabei hat Miller auf den ersten Blick die leichtere Aufgabe. Er soll die verschwundene Tochter sehr reicher Eltern im Sonnensystem finden und zurückbringen. Der aufmerksame Leser vermutet Zusammenhänge mit diesem stimmungstechnisch dunklen Auftakt, ohne dass er bis weit in die Hälfte des Plots die Verbindungen wirklich ahnen kann. Miller ist müde, die langen Jahre als Polizist haben ihn ausgelaugt, wenn auch nicht wie typische Polizisten zynisch gemacht. Der alltägliche Überlebenskampf der Gürtler, zu denen er sich von Geburt nicht zählt, zu denen er aber aufgrund eines vergleichbaren Schicksals gehört, hat ihn gelehrt, in manch entscheidenden Moment wegzuschauen. Oder manchmal die Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen. Er weiß, dass er für seine Taten am Ende einen schrecklichen, im Drama der Autoren auch fast zynisch überspitzt und Filmen wie „Armageddon“ folgend auch einen ihn aus seinem intellektuellen Gefängnis befreienden Preis zu zahlen hat. Auch wenn der Leser kaum den Finger auf die Charakterisierung dieser Figur legen kann, Miller ist vielleicht der zugänglichste und trotzdem verletzlichste Protagonist dieses Romans.

Das genaue Gegenteil scheint Kapitän Holden zu sein, der einen alten Frachter mit einer kleinen Crew durchs All schippert. Als er zur Bergung eines Raumschiffwracks gerufen wird, greift ihn anscheinend ein mit Stealth-Technologie ausgestattete Raumschiff an. Bislang hatte Holden dank guter Strategie und vorausschauender Planung seine kleine Besatzung durch die harten Zeiten gebracht. Jetzt findet er sich offensichtlich in einer von den Marsianern gelegten Falle wieder, die sein altes Schiff zerstört. Einen echten Beweis hat er nicht. Trotzdem informiert er alle Parteien im Sonnensystem, das aus seiner Sicht die Marsianer einen offenen Krieg mit den Gürtlern beginnen wollen. Die erste Lunte ist gelegt. Die Asteroidenregierungen entschließen sich dagegen, Holden Mundtot zu machen, sondern setzen ihn ein, die Hintergründe dieser mysteriösen Verschwörung aufzudecken. Es dauert nicht lange, bis Holden auf Miller trifft. Beide müssen erkennen, dass das Verschwinden des Mädchens, die sich kontinuierlich steigernden Spannungen und letztendlich das Schicksal der ganzen Menschheit nur noch wenig von den drei rivalisierenden Gruppen beeinflusst werden können.

Wie schon angesprochen haben die Autoren die Protagonisten mit viel Einfühlungsvermögen, einem sehr guten Auge für die Details und der Fähigkeit, sie für den Leser ab dem ersten Augenblick an leicht unterscheidbar gestaltet. Miller und Holden werden im Laufe der Ereignisse über ihre Durchschnittlichkeit herauswachsen und zu den „Helden“ werden, welche die klassische Space Opera bevölkern. Ohne dass diese Wandlung sich zu hektisch vollzieht oder plottechnisch nicht untermauert ist. Um Miller und Holden postieren die Autoren unter anderem mit dem Schlächter des Asteroidengürtel/Helden des Befreiungskampfes Fred eine auf den ersten Blick mystisch überdimensionale Figur, deren Charisma angesichts Holdens unorthodoxer Vorgehensweise schnell verfliegt. Auch die verschwundene Juliet, welcher die Autoren aufgrund von Millers Ermittlungen einen kurzen Augenblick des sehr persönlichen wie flüchtig tragischen Ruhmes zugesteht. Mancher Schurke wie der rücksichtslose Wissenschaftler, dem Miller ein passendes Ende bereitet, wirken ein wenig überzeichnet und drohen in Klischees zu versinken, aber die Masse der Protagonisten ist nicht nur überzeugend, sondern bleibt dem Leser länger im Gedächtnis.

Neben den Figuren sind der interessant aber bodenständig in technischer Hinsicht entwickelte Hintergrund sowie der eigentliche Plot sehr zufriedenstellend. Die meisten der Raumschiffe sind nach praktischen Gesichtspunkten als gigantische Schlepper konstruiert, die Rohstoffe zu den Inneren Planeten und Wasser/Sauerstoff zu dem Asteroidengürtel transportieren. Nicht umsonst besteht Holdens Crew im Grunde aus Blaumännern, die einen harten Job haben. Nicht umsonst findet Miller bei einer Truckerfamilie kurze Zeit Zuflucht, die mit ihren Raten im Rückstand auf einem Wrack durchs All fliegen. Der Waffenfetischismus der Autoren wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Realismus und Übertreibung. Insbesondere die Handfeuerwaffen, Schiffsraketen und Werfer passen sich in diese praktische Zukunftstechnik ein, während am Ende die Idee eines Überfalls des Mars und der Erde mittels auf den Weg gebrachter Asteroiden angesichts des vorherrschenden Technik genauso übertrieben erscheint wie der finale Showdown, der an eine Mischung aus „Meteor“ und der Folge „Planet außer Kurs“ („Raumpatrouille“) erinnert. Die Arbeit im All ist gefährlich, lebensgefährlich. Die Strahlungen der Reaktoren, die unwirtlichen Asteroidenoberflächen, das Ausschachten der Stollen und schließlich auch die rücksichtslosen Militärs, deren Pläne ganz andere sind.

Ohne die Handlung zu unterdrücken und das Tempo des vielleicht ein wenig zu langen Romans überdurchschnittlich abzubremsen, entwickeln die Autoren eine dunkle, sehr realistische Zukunftsvision, die an Details den schon angesprochenen Doppelroman von Paul McAuley in nichts nachsteht und eine backgroundtechnische Ergänzung bilden könnte.

Handlungstechnisch zerfällt der Roman im Grunde in zwei unterschiedliche Teile. Zum einen bis ungefähr zur Hälfte eine Detektivgeschichte, die Suche nach einem vermissten Mädchen; ein militärischer auf den ersten Blick sinnloser Überfall, die Ermittlungen des Detektivs; die Flucht von Holdens Crew vor unbekannten Häschern. Ein bisschen Paranoia hinzugemischt und die Geschichte unterhält ungemein spannend. Mit dem außerirdischen Virus, das sich eine eigene Aufgabe sucht, rutscht der Plot dank der unbekannten Schöpfer von außerhalb des Sonnensystems ein wenig zu sehr ins Mystische ab. Die Autoren greifen zu sehr auf die Klischees von den rücksichtslosen Wissenschaftlern zurück, die den Geist der Pandora nicht mehr einfangen können. So effektiv die von den Autoren angedachten Veränderungen auch beschrieben werden, sie wirken manchmal zu überambitioniert, zu wenig harmonisch und eher mit Gewalt konstruiert. Untergemischt finden sich eine Reihe von tragischen Szenen, deren Emotionalität nicht aufgesetzt ist. Sie ragen aus dem teilweise ein wenig zu mechanisch ablaufenden zweiten Teil des Buches immer noch heraus. Weiterhin positiv präsentieren die Autoren im Vergleich zu zahlreichen anderen Trilogien schon mit dem Auftaktband ein zufriedenstellendes Zwischenende, das nicht alle Fragen beantworten kann oder will, das aber seinen Spannungsbögen zufriedenstellend und packend, wenn auch nicht unbedingt originell, abschließt.

Zusammengefasst ist „Leviathan erwacht“ der Auftakt einer interessanten, wahrscheinlich mehr als die Enge des Sonnensystems umfassenden Space Opera, wobei die mystische Schwermut der barocken modernen Weltraumoper durch bodenständig überzeugende Charaktere sowie eine deutlich stringentere wie bodenständigere Handlung in einer näheren Zukunft ersetzt worden ist. Trotz einem Hang zur Überlänge liest sich das Buch gut.