Ross Armstrong: The Watcher - Sie sieht dich (Hörbuch)

Ross Armstrong
The Watcher - Sie sieht dich
(The Watcher, 2016)
Gekürzte Lesung nach dem gleichnamigen Roman, erschienen bei Scherz
Übersetzung: Christine Strüh
Sprecherin: Ulrike Kapfer
Argon, 2017, 6 CDs, ca. 470 Minuten, ca. 19,95 EUR, ISBN 978-3-8398-1585-4

Rezension von Irene Salzmann

Lily Gulick lebt mit ihrem Mann in einem Londoner Neubaugebiet, für das die alten Wohnungen des Abrissviertels Stück für Stück weichen müssen mit all den negativen Folgen für dessen Bewohner, denen man zwar neue Unterkünfte versprach, doch dabei ist es auch geblieben. Wenn Lily nicht ihrem Job nachgeht, beobachtet sie Vögel und dokumentiert deren Verhalten - und das ihrer Nachbarn, über die sie sich Phantasie-Geschichten ausdenkt.

Eine zufällige Beobachtung lässt Lily glauben, dass in einer der Wohnungen gegenüber eine junge Frau in großer Gefahr schwebt. Ohne ihren Mann, der sich lediglich für das Buch interessiert, an dem er schreibt, in ihre Pläne einzuweihen, beginnt Lily Nachforschungen anzustellen. Sie spricht mit Nachbarn und Passanten und versucht, mehr über den oder die Bewohner in der fraglichen Wohnung herauszufinden.

Prompt bringt die Schnüffelei Lily in Gefahr. Eine ältere Frau, die sie nur wenige Stunden zuvor besucht hatte, wird ermordet aufgefunden. Ob die Tote etwas gewusst hatte? So wie die verschwundene Studentin, die sich für den Erhalt der preiswerten Altimmobilien eingesetzt hatte? Plötzlich wird auch Lily beobachtet und bedroht. Von der Polizei scheint sie keine Hilfe erwarten zu können, und dann ist auch noch ihr Mann plötzlich verschwunden.

Trost findet sie bei ihrem Nachbarn Phil und bei ihrem Vater, der nach dem Rechten sehen will. Sie vertraut sich den beiden an, die zunächst aus gutem Grund an ihrer Geschichte zweifeln, und dann erkennt Lily ihren Fehler…


„The Watcher - Sie sieht dich“ ist eine Mischung aus Thriller und Drama, das sich Hitchcocks „Fenster zum Hof“ als Vorbild genommen hat. Entsprechende Anspielungen auf Film-Klassiker werden immer wieder eingestreut.

Allerdings vermag es der Titel nicht, auch nur eine vergleichbare Spannung aufzubauen, denn dafür liest beziehungsweise hört er sich über lange Strecken zu unzusammenhängend und verworren an. Das liegt daran, dass die Handlung nicht dem chronologischen Ablauf folgt, sondern ständig hin und her springt zwischen Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen, gerade stattfinden oder erst später eintreten werden.

Diese Zerrissenheit des Plot ist gewollt, denn er versinnbildlicht den Geisteszustand von Hauptfigur Lily Gulick, aus deren Sicht die Geschehnisse geschildert beziehungsweise einem unbekannten Adressaten, der erst nach einer Weile einen Namen erhält, erzählt werden. Nach und nach wird deutlich, dass die junge Frau traumatische Vorfälle verdrängt und eigentlich Hilfe bräuchte.

In Konsequenz beginnt man gemeinsam mit dem Umfeld daran zu zweifeln, ob die angeblichen Beobachtungen und Drohungen real sind oder sie vielmehr Lilys Einbildung entstammen. Diese Entwicklung kommt genausowenig überraschend wie die Auflösung am Ende, als die Lage eskaliert und Lily nur einen Ausweg sieht.

Leider gelingt es Ross Armstrong nicht wirklich, seinen Zuhörer in die Handlung zu ziehen und spannend zu unterhalten, weil „Das Fenster zum Hof“ zu weit weg ist und die übertriebene Zusammenhangslosigkeit der Kapitel einen Beziehungsaufbau zur Protagonistin und die Stimmung der Story mehr stört als unterstützt. Aber er schafft es, die desolaten Zustände in den Städten, in denen man bewusst alte Häuser verfallen lässt, um die Bewohner zu vertreiben, damit neue, teure Wohnungen für betuchte Mieter, Käufer und Spekulanten gebaut werden können, glaubhaft zu thematisieren. Das gilt auch für die Anonymität, Gleichgültigkeit, Verrohung und Verelendung in diesen Räumen. Bloß liefert der kritische Stoff lediglich die dunkle Kulisse; die Story selbst will keine Message transportieren.

Der Vortrag von Ulrike Kapfer lässt Lily, die der Autor recht derb und eigentümlich aufbaut - nicht jeder Autor vermag es, das jeweils andere Geschlecht überzeugend darzustellen -,nicht sympathischer erscheinen. Man spürt gleich zu Beginn, dass mit der Protagonistin etwas nicht stimmt, und schon bald treibt sie allerlei schräge und illegale Dinge bei ihren Recherchen, die durchaus peinlich und mitunter nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Barrieren sind zu hoch, als dass das Publikum echte Anteilnahme verspürt.

Alles in allem ist „The Watcher - Sie sieht dich“ reine Geschmackssache und gewiss kein „Fenster zum Hof“.