Anja Bagus: Aetherherz – Ein Annabelle Rosenherz Roman (Buch)

Anja Bagus
Aetherherz
Ein Annabelle Rosenherz Roman
Aetherwelt-Trilogie 1
2014, Paperback, 396 Seiten, 12,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Von Carsten Kuhr

Wir kennen die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende. Alles ging noch etwas geruhsamer vor sich, die Arbeiter und Dienstboten waren stolz darauf, zum Erfolg der Firma beizutragen, beziehungsweise ihren Herrschaften zu dienen. Als Mitglied der Aristokratie verbrachte man seine Tage im Caféhaus, reiste in mondäne Heilbäder um dort Körper und Geist zu erfrischen. Die Rollenverteilung ist dabei klar und von allen – fast allen – auch akzeptiert. Die Herren herrschen und sorgen für die monetäre Absicherung, die Frauen repräsentieren und widmen sich ihren Kaffeekränzchen, die Diener und Arbeiter arbeiten klaglos.

Als bekanntester und weit über die Grenzen des Reiches berühmter Badeort erfreut sich Baden-Baden, die Stadt, die so bezaubernd ist, dass man ihren Namen zweimal schreibt, in In- und Ausland größten Zuspruchs. Daran hat auch der, seit der Jahrhundertwende aus Weihern, Flüssen und Seen aufsteigende Æther nichts geändert. Zwar kann man mit dem ein wenig unheimlichen Stoff so manches Antreiben, die Erfindungen überschlagen sich förmlich, doch die Gefahren für Leib und Seele derer, die vom Æther befallen werden, sind nicht von der Hand zu weisen.

Menschen verändern sich durch die Einflussnahme des unheimlichen Stoffes innerlich wie äußerlich. Manche entwickeln gar merkwürdige, fast übernatürliche Fähigkeiten, Andere verwandeln sich in Wesen, die an Figuren aus dem Gruselkabinett oder Märchen erinnern. Gut, dass die Ordnungsmacht auch ohne große Gesetzesgrundlage den Schutz der Bürger übernimmt und die Æther-Bestien in Verliesen und Festungen wegschließt.

Auftritt für Fräulein Annabelle Rosenherz. Ihr Vater, ein angesehener Anthropologe, Archäologe und Weltreisender, ist seit Monaten verschollen, sie selbst derob tief beunruhigt. Nicht genug damit, dass ihr geliebter Vater verschwunden ist, man bedrängt sie, sich doch in die starken, beschützenden Arme eines Mannes zu begeben, der ihr die Last, das Familienvermögen zu verwalten, abnehmen könnte. Dabei hat ihr Vater sein einziges Kind, nach dem viel zu frühen Tod seiner Frau, immer mit auf Expeditionen genommen, hat sie nicht nur das Forschen sondern auch das Denken gelehrt. So ist Annabelle, ganz im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen, ein aufgeweckter Freigeist, die ihre Tage als einzige weibliche Forscherin im pathologischen Labor am Mikroskop verbringt.

Dort kommt sie dann einer perfiden Verschwörung auf die Spur. Frauen aus den besseren, sprich: betuchteren Kreisen tauchen mit Vergiftungserscheinungen im Leichenschauhaus auf. Die Suche nach Täter und Motiv führt, über Soirees und Kaffeekränzchen, hin zum organisierten Verbrechen und auf die Feste, auf der die vom Æther umgestalteten Wesen gefangengehalten werden.

Dabei kommt Annabelle nicht nur ihr eigenes Geheimnis, ihr ganz persönlicher Bezug zum grünen Nebel, sondern auch ihre Hormone in den Weg – zeigt sich doch bald, dass nicht nur unschuldige Opfer der oberen Zehntausend, sondern das ganze Reich Baden, ja das Kaiserreich höchstselbst in Bedrängnis sind…

Was Anja Bagus uns hier als Debütroman im Eigenverlag kredenzt, das ist, ich ziehe meinen Hut, ganz vorzügliches Lesefutter. Voller Elan, Tempo und Ideen entführt sie ihre Leser in eine andere Welt.

Und ich meine hier nicht etwa „nur“ den Æther, und dessen Auswirkungen auf die Industrie, die Gesellschaft und Politik, sondern zunächst einmal ganz profane Dinge.

Mit großen Gespür für die Art und Weise, wie die Menschen damals gedacht haben, wie sie sich verhalten und welchen Vorurteilen sie gefrönt haben, platziert die Autorin ihren Plot in einem Umfeld, das sehr überzeugend und real wirkt. Sorgfältig recherchiert nimmt sie uns bildlich gesprochen an die Hand und lässt uns miterleben, wie ein junges, intelligentes Mädchen, fast schon eine Frau, von den gesellschaftlichen Konventionen an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert wird. Daneben gelingt es ihr, scheinbar mühelos, die Geisteshaltung und das Rollenverhalten zur damaligen Zeit anhand von dem ganz natürlich wirkenden Verhalten der Figuren zu illustrieren. Hinzu kommt, dass Bagus sich Personen hat einfallen lassen, die dem Leser schnell und mühelos ans Herz wachsen. Sei es die mutige, selbstbewusste Annabelle, der introvertierte Paul, sein draufgängerische Bruder oder die Freundin unserer Erzählerin, sie alle nehmen plastisch vor dem inneren Auge des Lesers Gestalt an.

Kommen wir nach dem Umfeld, den Figuren – die Antagonisten habe ich um nicht zu viel zu verraten hier unter den Tisch fallen lassen (was sie ganz bestimmt nicht verdienen …) – zum eigentlichen Geschehen. Was erwartet uns, wenn wir uns auf das Werk einlassen?

Morde, Verbrechen, Verrat – das weist auf einen Kriminal-Plot hin, der Suche nach dem Who Did It And Why, also Täter und Motiv. Ja, stimmt, damit aber nicht genug; berichtet Bagus uns von der Ausgrenzung, ja Stigmatisierung von Minderheiten, von der Furcht vor dem Fremden, der Angst vor Veränderung, dem Freiheitsdrang und Mut der jungen Frauen (und Männer), die sich um die Gleichberechtigung verdient machen. So ist dies auch ein Sittengemälde, das Bild einer Zeit, die gar nicht so lange her ist, die wenn auch in anderen Details immer wieder auch aktuelle Bezüge in Hinblick auf Konservatismus und Ablehnung von Veränderung aufweist.

Und es ist ein phantastischer Roman – und dies nicht zu knapp! Phantastische Erfindungen rund um und mittels des Æthers, merkwürdige Wesen, deren Schicksale uns anrühren, märchenhafte Sequenzen und Szenen, sorgen für jede Menge Flair und Spannung – gemeinhin unter dem Überbegriff Steampunk bekannt und oft beschworen.

Vorliegend bekommt man für einen mehr als moderaten Obolus fast 400 Seiten besten Steampunk voller Dramatik, Tempo und Faszination und das Beste ist: die Autorin ist noch lange nicht fertig, sondern legt noch zwei Schippen rund um Annabelle nach!