Oliver Henkel: Die Zeitmaschine Karls des Großen (Buch)

Oliver Henkel
Die Zeitmaschine Karls des Großen
Titelbild und Karte: Timo Kümmel
Atlantis, 2013, Paperback, 468 Seiten, 16,90 EUR, ISBN 978-3-86402-086-5 (auch als Hardcover und eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Oliver Henkels erster Roman erhielt völlig zu Recht den Deutschen Science Fiction Preis des Science Fiction Clubs Deutschland (SFCD) und ist bis heute des Autors bestes Werk. Dabei ist „Die Zeitmaschine Karls des Großen“ sogar dermaßen gelungen und überzeugend, dass man sich fragt, warum das Werk nicht damals 2001 bei einem der etablierten Verlage erschienen ist.

Insgesamt muss man Henkel zugestehen, dass sein Roman zum Besten gehört, was die deutsche SF je hervorgebracht hat. Dem Rezensenten ist nichts qualitativ Vergleichbares in diesem Zeitraum im Genre deutscher SF untergekommen. Den Abstimmungsberechtigten des Kurd Lasswitz Preises jedenfalls sollte es peinlich sein, dass sie ein mäßiges Werk wie Andreas Eschbachs, „Quest“, zum Preisträger in jenem Jahr kürten und Henkels Meisterwerk nicht einmal unter die besten fünf Romane kam (war er als Book on Demand vielleicht sogar ausgeschlossen zu dieser Zeit, oder haben die Herren und Damen Juroren sich einfach nicht darum gekümmert, was für ein überragendes Buch hier abseits der ausgetretenen Pfade veröffentlicht wurde?).

Henkel erzählt in „Die Zeitmaschine Karls des Großen“ die erstaunliche und überaus spannende Geschichte einer gründlich ausgearbeiteten Alternativwelt, in der das Weströmische Reich nicht im Jahre 476 n. Chr. unterging.

Im Jahr 796 ist deshalb Karl der Große eine Art Vasall der Weströmer, während die Perser einen großen Angriff auf das Oströmische Reich planen. Doch durch Hilfe Weströmischer Truppen können die Oströmer sich schlagkräftig zur Wehr setzen.
Leider plant Karl der Große den Angriff auf die Weströmer zu dieser Zeit, hat er doch durch einen abtrünnigen Zeitreisenden erfahren, welch bedeutender Herrscher er eigentlich hätte sein sollen. Ausgerüstet mit Musketen, deren Technik der Zeitreisende lieferte, marschieren Karls Truppen gen Rom.

Währenddessen erkundet der für die Weströmer arbeitende Ostgote Andreas Sigurdius als Spion das Frankenreich und trifft auf einen weiteren Zeitreisenden, den US-Amerikaner Franklin Vincent. Zuerst steht er diesem völlig ungläubig gegenüber. Da Vincent jedoch einen aus dieser Zeit stammenden Verbündeten braucht, der ihn bei der Suche nach seinem Kollegen unterstützt, eröffnet er Sigurdius die ganze Wahrheit.

Schließlich gelingt es ihnen, zu dem von Karl gefangenen Zeitreisenden vorzudringen, der bei seinem letzten Besuch in Pompeji im Jahre 79 n. Chr. den Ablauf der Geschichte gründlich durcheinander gewirbelt haben muss, ohne jedoch genau zu wissen, welche seiner Taten kurz vor dem Vulkanausbruch diese Alternativwelt geschaffen hat. Dies müssen sie herausfinden, um die alte Realität wieder herzustellen...

Neben der etwas überstrapazierten Esoterik und den Charakteren, die der Autor noch etwas stärker hätte herausarbeiten können, ist das abschließende Ende der Geschichte ebenfalls ein (wenn auch nur leichtes) Manko, denn unter anderem der Alternativweltroman „Times without Number“ (dt. als „Zeiten ohne Zahl“, Heyne) des Briten John Brunner ist nur eines von vielen Vorgängerwerken, welche den von Henkel verwendeten Plot schon strapaziert haben (und Brunner war beileibe nicht der erste, der dies tat).

Ansonsten ist dem Autor aber ein großartiges und vor allem brillant recherchiertes Meisterwerk gelungen, welches durchgängig spannend ist.

Trotz der fast 500 Seiten hat die Geschichte keinerlei Hänger. Sie saugt den Leser ein und lässt ihn zu keiner Zeit los. Bewundern muss man dabei den Umfang der historischen Recherchen des Autors. Egal ob es um historische Figuren, Schlachtformationen, Bewaffnungen, religiöse Gegebenheiten oder ähnliches geht, immer hat der Leser das Gefühl von Authentizität. Besonders hervorzuheben sind die hier geschilderten Schlachten, die selbst Verächter von sogenannter Military SF begeistern dürften. Zeitweise erinnert Henkels Buch an H. Beam Pipers tollen Roman „Lord Calvan of Otherwhen“ (dt. „Der Mann der die Zeit betrog“), ist jedoch wesentlich souveräner erzählt.

Ebenfalls interessant ist die religiöse Aufteilung des Weströmischen Reichs in zwei christliche Gruppen, deren eine leider in unserer Realität nicht lange Bestand hatte und deren freigeistige Haltung zweifellos einige historische Veränderungen bewirkt hätte. Vor allem hier gewinnt der Roman an Glaubwürdigkeit und verschafft der erzählten Geschichte eine Tiefe und Plastizität, die bisher auch von den besten internationalen Alternativweltromanen nur mit Mühe erreicht worden ist.

„Die Zeitmaschine Karls des Großen“ kann sich deshalb mühelos mit Meilensteinen der SF im Bereich Alternativweltroman oder Zeitreisegeschichte wie zum Beispiel Keith Roberts „Pavane“ (dt. unter anderem unter gleichnamigem Titel bei Heyne), Connie Willis „Doomsday Book“ (dt. als „Die Jahre des Schwarzen Todes“, ebenfalls Heyne), dem oben erwähnten John Brunner oder Otto Basils „Wenn das der Führer wüsste“, dem einzigen deutschsprachigen Meisterwerk auf diesem Gebiet vor Henkels Roman (zum Beispiel als Moewig TB erschienen), messen, um nur einige zu nennen.

Auch wenn Henkels nachfolgende Veröffentlichungen leider nicht immer die Qualität seines Erstlings erreichten, so bleibt festzuhalten, dass dieses geniale Buch dem Autor niemand mehr nehmen kann.

Und sollten die Abstimmungsberechtigten des oben genannten, angeblich renommiertesten deutschen SF-Preises (der inzwischen wohl nur noch zwischen gewissen noch „renommierteren“ Autoren hin- und hergeschoben wird) irgendwann einmal aufwachen und ihren Irrtum erkennen, so möchte man ihnen zurufen: „Mein Gott! Lest doch bitte alle nominierten Neuerscheinungen oder bezieht auch abseits der üblichen Verlage erschienene Bücher in die Wahl mit ein, bevor ihr den Preis vergebt, und nicht immer nur die Romane von gewissen, allseits bekannten Bestsellerautoren. Wie kann es sonst passieren, dass der SFCD euch in den Schatten stellt? Peinlich, peinlich!“

Denn eines bleibt zweifelsfrei festzuhalten: Was Qualität, Niveau und Recherche betrifft, kann Eschbachs zwar optisch perfekt aufgemachtes aber inhaltlich leeres und oberflächliches Buch „Quest“ auf keiner Seite mit Oliver Henkels Erstling mithalten. Und jeder einigermaßen verständige Leser wird dies im Lesevergleich feststellen müssen, selbst Eschbach-Fans oder Liebhaber von „Quest“. Denn dazu ist Henkels „Die Zeitmaschine Karls des Großen“ einfach zu ausgefeilt und intelligent. Und so spannend wie „ein Eschbach“ ist das Buch allemal!