Ralf Boldt & Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Die Stille nach dem Ton (Buch)

Ralf Boldt & Wolfgang Jeschke (Hrsg.)
Die Stille nach dem Ton
Titelbild: Lothar Bauer
p.machinery, 2012, Paperback im Überformat, 392 Seiten, 28,90 EUR, ISBN 978-3-942533-37-9

Von Armin Möhle

„Die Stille nach dem Ton“ ist ein ungewöhnliches Buch: Das Format ist fast doppelt so hoch wie ein handelsübliches Taschenbuch und breiter. Das macht den Band bei der Lektüre etwas sperrig, aber es leuchtet durchaus ein, weshalb dieses Format gewählt wurde. Der besondere Charakter von „Die Stille nach dem Ton“ beschränkt sich freilich nicht auf Äußerlichkeiten: Der Band enthält sämtliche Kurzgeschichten, die mit dem SFCD-Literaturpreis (1985-1998) und dem (wohlklingenden) Deutschen Science Fiction Preis (ab 1999), abgekürzt DSFP, der ebenfalls vom SFCD vergeben wurde beziehungsweise wird, ausgezeichnet wurden.

Die Siegerstory des Jahres 1999 gab der Anthologie ihren Titel: „Die Stille nach dem Ton“ von Michael Marrak. Der Protagonist der Kurzgeschichte wird mit einem seltsamen Phänomen konfrontiert. Zunächst verschwinden bestimmte Geräusche, später auch die Gegenstände oder die Tiere, die sie emittieren. Michael Marrak gewann auch den DSFP für 2000. Der „Wiedergänger“ versucht sich einer virtuellen (?!) Welt anzupassen. Beide Kurzgeschichten punkten mit originellen Ideen und einem brillanten Stil.

Michael Marrak ist freilich nicht der einzige Autor, dem es gelang, den DSFP oder seinen Vorgänger zweimal zu gewinnen. Marcus Hammerschmidt ist auch mit zwei Storys in „Die Stille nach dem Ton“ vertreten; zwischen seinen Erfolgen liegen allerdings elf Jahre. Und die beiden Stories unterscheiden sich deutlich voneinander. Während „Die Sonde“ (1996) seitenweise weitschweifig von der virtuellen Vorbereitung des Astronauten auf die erste Marsexpedition erzählt, ist „Canea Null“ (2007) erheblich prägnanter verfasst und bietet mit der Darstellung eines ungewöhnliches Planeten und seiner beherrschenden Lebensform auch den interessanteren Plot.

Marcus Hammerschmidt und Michael Marrak blieben jedoch nicht die einzigen Autoren, die den DSFP beziehungsweise den Vorgänger mehrfach gewannen; Wolfgang Jeschke und Michael K. Iwoleit sind sogar dreifache Preisträger.

„Nekromanteion“ (1986) von Wolfgang Jeschke erinnert an den Roman „Ubik“ von Philip K. Dick; immerhin wählt Wolfgang Jeschke eine andere (technische) Methode, um Verstorbene zeitweise wieder ins Leben zurückzubringen, was zu einem Fiasko innerhalb einer zusammenbrechenden Welt gerät. „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ (1994) ist eine sehr bittere Kurzgeschichte, in der jede Nacht die Leichen von 40.000 Kindern auf den Petersplatz in Roman herabregnen – und beseitigt werden müssen. Wolfgang Jeschke offenbart in beiden Storys sehr illusionslose Perspektiven.

Michael K. Iwoleit ist neben Michael Marrak der herausragende Stilist in „Die Stille nach dem Ton“, dem atmosphärisch sehr dichte und komplexe Schilderungen naher und ferner Zukunftswelten gelingen. In „Wege ins Licht“ (2002) ist es eine bittere Variation des vermeintlichen Segens der Unsterblichkeit, in „Ich fürchte kein Unglück“ (2004) greift er sogar noch weiter hinaus: Die Entwicklung von Supercomputern ermöglicht Aussagen über die Entwicklung und das Ende des Universums. „Psyhack“ (2006) als Kriminalstory, in der implantierte und manipulierte Erinnerungen eine Rolle spielen, mutet demgegenüber geradezu bodenständig an. Michael Iwoleit geht es dabei nicht nur um wissenschaftlichen Erkenntnisse und technische Möglichkeiten; in den Stories stehen seine Protagonisten im Vordergrund, die in ihrer jeweiligen Welt unter dem Einfluss ihren Motive agieren müssen.

Selbstverständlich sind auch eine Reihe von Kurzgeschichten von Autoren, die „nur“ ein ausgezeichnet wurden, erwähnenswert.
Ernst Petz führt in „Das liederlich machende Liedermacher-Leben“ (1988) eine musiklose Welt vor, die einen eigenwilligen Blick in ihre Vergangenheit wirft. Mit einer der ausgefallensten Ideen in „Die Stille nach dem Ton“ wartet Andreas Findig in „Gödel geht“ (1991) auf. Außerdem weiß der Autor stilistisch sehr einfühlsam die Atmosphäre eines Wiener Caféhauses (in der Vergangenheit) einzufangen. „Der menschliche Faktor“ (1997) von Michael Sauter ist eine humoristische Kurzgeschichte um einen Raumfrachterkapitän und seinen Bordcomputer, die Opfer eines Versicherungsbetruges werden. Ihrem sicheren Tod sieht dagegen eine Astronautin in der stimmungsvollen Story „Die Wunder des Universums“ (1998) von Andreas Eschbach entgegen. „Smalltalk“ (2003) von Arno Behrend offenbart sich als amüsante Parallelweltgeschichte. Der Titel der Story von Frank W. Haubold, „Heimkehr“ (2008), ist doppeldeutig, denn die Story beschreibt nicht nur die alljährliche Heim-, besser: Rückkehr des Protagonisten an den Ort eines gescheiterten Experiments, sondern zeigt auch die Lösung auf. Aber warum nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt ...?! „In der Freihandelszone“ (2012) bewegt sich Heidrun Jänchen und zeigt auf, welche Gefahren sich in Patentverhandlungen und in Besuchen bei Prostituierten verbergen können.

In der Rückschau über immerhin 28 Jahre Preisvergabe und damit auch über 28 Kurzgeschichten stellt sich wohl zwangsläufig die Frage, aus welchen Gründen manche Storys ausgezeichnet wurden – oder wie schlecht die konkurrierenden Texte waren…
Bereits bei der ersten ausgezeichneten Story, „Ein Mord im Weltraum“ (1985) von Thomas R. P. Mielke, fällt der simple Plot auf (d. h. das Motiv für das Verbrechen). In „Die Asche des Paradieses“ (2005) fällt Karl Michael Armer nichts Besseres ein, als einen Weltkrieg zwischen dem Katholizismus (nicht dem Christentum!) und dem Islam zu schildern, was nicht zur säkularen westlichen (Real-) Welt passt. „Weg mit Stella Maris“ (2009) von Karla Schmidt basiert auf einem Zufall, den man für sehr unwahrscheinlich halten kann. Ähnlich absurd ist auch „Orte der Erinnerung“ (2011) von Wolfgang Jeschke. Zwar wird schnell klar, dass der Protagonist von sich selbst aus der Zukunft angerufen wird. Später findet er einen PDA, mit dem er in die Vergangenheit telefonieren kann… Mit entsprechenden Vorwahlnummern! Matthias Falke betreibt in „Boa Esperanҫa“ seitenlange Stimmungsmalerei und kann sich nicht entscheiden, was er beschreiben soll: eine Liebe unter dem Einfluss der Zeitdilatation interstellarer Reisen oder einen unmotivierten Weltraumkrieg. Ersteres wäre ansprechend genug gewesen.

Es ist interessant und – auf den ersten Blick – überraschend, dass mit dem Kurd Laßwitz Preis gänzlich andere Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden (von „Nekromanteion“, „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ und „Canea Null“ abgesehen), was andererseits für die Vielfalt der deutschen SF-Szene spricht.

„Die Stille nach dem Ton“ ist eine eindrucksvolle Zusammenfassung der besten deutschen SF-Kurzgeschichten der – knapp – letzten drei Jahrzehnte. Dass sich Unterschiede zwischen den einzelnen Texten finden lassen, was Themen, Darstellungen, Stil und auch Qualität angeht, ist für Anthologien typisch und gilt natürlich auch für „Die Stille nach dem Ton“. Aber auch das macht ihren Reiz aus.