Kai Meyer: Das Antiquariat am alten Friedhof (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 05. November 2025 07:51

Kai Meyer
Das Antiquariat am alten Friedhof
Knaur, 2025, Hardcover, 512 Seiten, 24,00 EUR
Rezension von Carsten Kuhr
Einmal mehr führt Kai Meyer seine Leserschaft in das geheimnisvolle Graphische Viertel Leipzigs - jenen Ort, an dem Literatur, Macht und Magie aufeinandertreffen.
Hier, wo Verleger-Dynastien in abgeschotteten Villen residieren, wo sich ein Antiquariat ans nächste reiht und die Luft nach Druckerschwärze riecht, wachsen vier Freunde auf. Alle stammen aus gutem Hause; einer von ihnen betreibt ein kleines Antiquariat, in dem sich der „Club Casaubon“ regelmäßig trifft. Dort wird gelesen, geplaudert, getrunken - und Pläne geschmiedet.
Wir schreiben das Jahr 1930. Die jungen Männer haben es sich zur Aufgabe gemacht, reiche Sammler um deren okkulte Bücher zu erleichtern - nicht zuletzt, um ihr Antiquariat finanziell über Wasser zu halten.
Ihr Auftraggeber, der zwielichtige russische Geheimagent Magnus Heiden, setzt sie auf die Bibliothek des just in Leipzig weilenden Aleister Crowley an. Der Coup misslingt, und sie entkommen gerade noch nur mit einem geheimnisvollen Knochen, den Crowley zum Schutz seiner Schätze hinterlassen hat.
Kurz darauf stößt Eva, die Schwester eines der Freunde, zur Gruppe. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach einem Buch, hinter dem nicht nur Leninisten, Stalinisten und Nazis, sondern auch die Amerikaner her sind - einem Werk, das Kreuzkorrespondenzen enthält und angeblich die Macht besitzt, Lenin von den Toten auferstehen zu lassen.
Fünfzehn Jahre später. Die Stadt liegt in Trümmern, die Amerikaner rücken in Kürze ab, die Russen stehen vor der Tür. Felix, einer der ehemaligen Clubmitglieder, kehrt im Auftrag der US-Geheimdienste nach Leipzig zurück. Ein angeblich alter Freund behauptet, die okkulte Privatbibliothek Hitlers zu kennen und Felix soll prüfen, ob der Mann wirklich ist, wer er vorgibt zu sein.
In der zerstörten Stadt begegnet er alten Bekannten, Spionen, einem Serienmörder - und vielleicht Eva. Als sich die Spuren um die Kreuzkorrespondenzen erneut verdichten, beginnt ein gefährliches Spiel aus Täuschung, Rache und Schuld…
Zum vierten Mal entführt uns Kai Meyer in das Graphische Viertel - und erneut gelingt ihm das Kunststück, historische Realität und phantastische Elemente zu einem atmosphärisch dichten Geflecht zu verweben. Der Roman entfaltet sich in zwei Zeit-Ebenen, vor und nach dem Krieg, und verbindet temporeiche Handlung mit detailreicher Recherche. Meyers Leipzig ist kein nostalgisches Panorama, sondern ein lebendiger, düsterer Schauplatz, in dem Geschichte, Literatur und Okkultismus aufeinandertreffen.
Wie stets merkt man dem Werk an, wie sorgfältig Meyer recherchiert hat. Bauwerke, Figuren, Denkmuster - alles atmet historische Authentizität, ohne den erzählerischen Sog zu bremsen. Die Sprache ist präzise, rhythmisch und bildhaft, die Handlung verschachtelt, aber stets klar und zielgerichtet. Zahlreiche Gefahren, Rätsel und unerwartete Wendungen halten Leserinnen und Leser bis zur letzten Seite gefangen.
Das Besondere an Kai Meyer bleibt jedoch seine stilistische wie handwerkliche Souveränität. Er versteht es, Realität und Mythos zu verschmelzen, Figuren emotional greifbar zu machen und gleichzeitig wunderbar spannend und fesselnd zu unterhalten. Ganz nebenbei lernt man Einiges über die Stadt Leipzig, über die Verlagsgeschichte und über die Geister, die in den Ruinen der Moderne weiterleben.
„Das Antiquariat am alten Friedhof“ ist ein literarisch brillanter, atmosphärisch dichter Page-Turner - Kai Meyer auf der Höhe seiner Kunst.