Paolo Bacigalupi: Navola - Das Erwachen des Drachen (Buch)

Paolo Bacigalupi
Navola - Das Erwachen des Drachen
(Navola, 2024)
Übersetzung: Alexander Weber
Tor, 2025, Hardcover, 798 Seiten, 32,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Kennen Sie das Venedig der Dogen? Eine Metropole, die einst weite Teile der bekannten Welt beherrschte, deren Händler und vor allem deren Bankiers Regierungen, Monarchen und Religionsführer in der Hand hielten und die Geschicke ganzer Reiche bestimmten? Machiavelli lässt grüßen. Stellen Sie sich nun eine ähnliche Welt vor - nur dass es dort Drachen und Magie gibt. Schon befinden Sie sich am Beginn einer faszinierenden Lektüre.

 

Erzählt wird die Geschichte aus Sicht von Davico di Regulai, des einzigen Sohnes des legendären Bankiers Devonaci. Ein Mann, der mit seinem immensen Wissen - genährt von seinen in aller Welt verstreuten Quellen - und mit seinen Gefälligkeiten, seien diese monetärer Art oder Ausdruck direkter Einflussnahme, nicht nur die Stadt Navola, sondern auch das Reich und die Nachbarländer beherrscht.

Davico selbst träumt eigentlich davon, Arzt zu werden. Sein Wissensdurst nach den Geheimnissen der Natur und den Möglichkeiten, aus Pflanzen Arzneien zu gewinnen, muss jedoch hinter der Pflicht gegenüber Vater und Familie zurückstehen.

Seit frühester Jugend wird er unterrichtet - im Führen der Bücher, durch das Lesen der Briefe väterlicher Agenten und durch das Zuhören, wenn der Vater Politik betreibt. Eine unglückliche Entscheidung des Vaters führt dazu, dass in der Stadt zwei Türme brennen. Eine alteingesessene Dynastie wird in dieser Nacht ausgelöscht, ein neureicher Emporkömmling ins Exil geschickt. Dessen Tochter jedoch bleibt als Pflegeschwester im Haus des Bankiers zurück und weckt Davicos erwachendes Interesse am anderen Geschlecht.

Niemand kann leugnen, dass Davico weder die mitleidlose Skrupellosigkeit seines Vaters noch dessen strategische Brillanz geerbt hat. Zwar ist er intelligent, doch zu weichherzig und wird in eine Rolle gedrängt, die ihm innerlich zuwider ist - die er aber ausfüllen muss, auch um Schlimmeres zu verhindern.


Was ist das für ein voluminöser Schmöker im besten Sinne? Fast 800 dicht bedruckte Seiten erwarten die Lesenden. Ein Fest für all jene, die Freude an verschachtelten Intrigen und Machtspielen vor historischer Kulisse haben.

Warum aber hat der Autor ausgerechnet den jungen, naiven Zögling zum Erzähler gewählt? Wären nicht Lady Furia oder Stilettotore, der Assassine seines Vaters, weitaus faszinierendere und geheimnisvollere Protagonisten gewesen? Die Antwort ist schlicht: Wir können uns in die positiv besetzte Figur des Jungen hervorragend hineinversetzen. Durch seine neugierigen, zugleich bewertenden Augen lernen wir die Metropole, ihre politischen wie wirtschaftlichen Verflechtungen und ihre Akteure kennen. Davico fühlt sich unzulänglich und gefangen in einer Welt, die Freundlichkeit als Schwäche betrachtet, die man ausnutzen und gegen einen verwenden kann.

Eine entscheidende Rolle spielt zudem das von seinem Vater teuer erworbene Drachenauge, das auf dem Schreibtisch thronend den Jungen in seinen Bann zieht, Geschäftspartner beunruhigt und zu prüfen scheint - doch das lesen Sie besser selbst.

Navola wird durch seine detailreichen Landschaftsbeschreibungen, die komplexen gesellschaftlichen Strukturen und die Sprache voller pseudo-italienischer Wendungen lebendig. Der Einfluss der Familie di Regulai auf die Stadt ist immens, und Bacigalupi fängt die Spannung zwischen machtgierigen Fraktionen meisterhaft ein. Er zeigt, dass manchmal kalkulierte Gewalt und unerbittliche politische Manöver der einzige Weg sind, um Macht zu sichern.

„Navola - Das Erwachen des Drachen“ ist ein brillantes Buch. Es greift die klassische Coming-of-Age-Geschichte auf, verlegt sie in eine vom Italien der Renaissance inspirierte Welt, versieht sie mit einem Hauch Magie und macht sie zu einem Teil eines erbarmungslosen Spiels aus Macht und Intrigen.