Ihr Körper, das Schiff - Die besten internationalen Science-Fiction Geschichten (Buch)

Yvonne Tunnat und Chris Witt (Hrsg.)

Ihr Körper, das Schiff - Die besten internationalen Science-Fiction Geschichten
Übersetzung: Shatyn Wegmann
A7L Books, 2025, Paperback, 312 Seiten, 18,99 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Es ist eine mehr als traurige Feststellung, dass Kurzgeschichten - gleich welchen Genres - bei uns kein Medium mehr haben. Dies gilt umso mehr im Bereich der Phantastischen Literatur.

Einst, lange ist es her, hatten die Verlage entsprechende Auswahlbände der großen englischsprachigen Magazine im Programm („Magazine of Fantasy & SF“, „Analog“, „Galaxy“ etc.), Heyne und Goldmann veröffentlichten gar Original-Kollektionen. Inzwischen sucht man derartige Publikationen leider vergebens.

Einige der umtriebigen inhabergeführten Verlage bemühen sich noch, wenigstens deutschsprachigen Autoren ab und an eine Bühne für kürzere Texte zu geben, die tollen Erzählungen aus Übersee aber bleiben dem deutschsprachigen Markt fern.

Die beiden Herausgeberinnen vorliegender Anthologie, Yvonne Tunnat und Chris Witt, wollten diesen Umstand nicht mehr länger einfach nur hinnehmen. Sie stießen auf derartig vielfältige, überzeugende Geschichten, dass sie alle Hebel in Bewegung setzten, die Rechte zu erwerben und die Erzählungen zu übertragen und zu veröffentlichen.

Bei A7L Books, dem von Joshua Tree und Brandon Q. Morris gegründeten Verlag, fand man ein Heim für die Anthologie, die insgesamt fünfzehn Kurzgeschichten offeriert.

Und die fünfzehn Preziosen, die die beiden Herausgeberinnen entdeckt und für ihr Buch ausgewählt haben, können alle, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, überzeugen.

Stilistisch ansprechend, inhaltlich überraschend, aufwühlend und ergreifend pflegen die Verfasserinnen und Verfasser eher leise Töne. Ihnen geht es darum, uns Figuren zu zeigen, die an einem Wendepunkt in ihrem Dasein angekommen sind. Dabei scheuen sie es auch nicht, knifflige, belastende und traurige Themen anzupacken. Hier wird geliebt, gelitten, getrauert und verloren. Das ist darum so manches Mal auch keine einfache Lektüre zum Runterlesen. Man sollte sich für die Erzählungen Zeit nehmen, sich auf diese einlassen, sich in die Gestalten hineinversetzen, um die Tiefe der Geschichten und ihre jeweilige Aussage zu erfahren und zu verinnerlichen.

Auffallend dabei, dass die Autorinnen und Autoren aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen kommen. Hier begegnen uns Menschen, die aus einem anderen, einem für uns noch ungewöhnlichen Blickwinkel ihre Geschichten aufbauen und erzählen, die oftmals neue, ungewohnte Wege beschreiten - und das ist gut so!


Gleich der Auftakt, Angela Lius „Pinnochio Photography“, hat mich sehr berührt. Es ist eine leise, einfühlsam erzählte Geschichte um eine aus China immigrierte Kleinfamilie, in der die Eltern alles tun, damit ihre Tochter es einmal besser haben wird. Das Studium der Medizin ist anspruchsvoll, daneben macht die Tochter ein unbezahltes Praktikum in einem Studio, das frisch gestorbene Menschen für eine Foto-Aufnahme wieder kurzzeitig zum Leben erweckt. Als der Vater stirbt, haben die Tochter wie auch ihre Mutter einen belastenden, vielleicht aber auch befreienden Termin…

Kelsea Yus „In Erinnerungen ertrinken wir“ zeigt uns eine zerstörte Welt. Einzig tief im Ozean hat die Besatzung einer Forschungsstation das Armageddon überlebt, forscht daran, wie ein Weiterleben möglich sein könnte. Auf der Suche nach Nahrung aus der Tiefe der Meere stößt eine Forscherin auf eine Pflanze - ein Blatt genügt, um das Lieblingsessen und mit diesem verloren geglaubte Erinnerungen an eine vergangene Zeit wieder zugänglich zu machen…

Auston Habershaws „Brutparisitismus“ zeigt uns eine Welt, deren Bewohner von Naniten aufgefressen wurden - schließlich braucht man neuen Lebensraum und da stören Einheimische doch. Dumm, dass diese kurz vor ihrem Genozid einen Assassinnen beauftragt haben, den für den Angriff Verantwortlichen zu töten. Und dieser nimmt den Angriff persönlich - hat er doch in dem getöteten Volk erstmals so etwas wie Freunde, eine Familie und deren Bedeutung gefunden; Rache ist süß, auch wenn sie selbst es nicht mehr erleben…

In Rebecca Schneiders „Ich werde dein Spiegel sein“ sucht ein tödlicher Virus eine Kolonie heim. Immer mehr Menschen fallen diesem zum Opfer. Um die Pflege und andere Tätigkeiten aufrechtzuhalten, werden künstliche Menschen mit KI geschaffen - Wesen, die nach und nach ihren Schöpfern immer ähnlicher werden - Kollegen, Freunde, Liebhaber und… vielleicht auch geliebte Partner.

J.A.W. McCarthys „Sie es als Chance“ beschäftigt sich mit der Frage, was ist Leben in ungewöhnlicher Kombination mit Kindesmissbrauch. Eine junge Frau bekommt, da sie partout keinen Nachwuchs in die Welt setzen will, von ihren Eltern einen jungen Bruder per Post zugeschickt. Das künstliche Wesen, das mit Teilen ihrer eigenen DNA geschaffen wurde, hat eine Lebensdauer von rund 30 Tagen - Tage, in denen die Frau nicht nur eine Beziehung aufbaut, sondern sich ihren verdrängten Erinnerungen stellt und beschließt…

Katherine Ewell setzt sich in „Die Leiden des neuen Zeitalters“ mit dem Problem des Alterns - beziehungsweise des nicht Alterns - auseinander. Wir lernen eine alte Dame kennen, die nicht sterben will, nicht sterben kann. Mittels moderner Medizin hat sie alle Krankheiten besiegt, ihre beiden Kinder sind lange schon im Grab, als sie eine Pflegerin zu sich nimmt. Eveline, so der Name der Pflegekraft, kümmert sich um sie, umsorgt sie - bis sie immer mehr verschwindet. Der Anruf bei der Vermittlungsstelle bringt zu Tage, dass…

In Natasha Kings „Plötzliches Verhängnis“ kommen wir in eine postapokalyptische Welt, in der Fähigkeiten und Erinnerungen zwangsweise geraubt und auf die im Gehirn des Räubers verbaute Slotkarte geladen werden. Dass das Opfer stirbt - geschenkt, schließlich geht es dem Nano um nichts weniger, als um die Weltherrschaft… bis er auf ein Opfer stößt, das ein klein wenig anders ist als die üblichen unfreiwilligen Spender.

Mahmud El Sayeds „Erinnerungen an verlorene Erinnerungen“ erzählt uns von Aliens, die die Erde unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Satelliten wurden abgeschaltet, ein Jeder muss seine Steuern an die neue Herren abführen - doch nicht etwa Geld wollen diese, nein, die neue Währung sind persönliche Erinnerungen, die der Steuerpflichtige dann verliert. Je intimer diese, desto mehr Wert besitzen sie. Als ein junger Mann seinen sterbenden Vater dessen letzten Wunsch erfüllen möchte, muss er etwas ganz Besonderes eintauschen.

Z. K. Abraham entführt uns in „Ihr Körper, das Schiff“ auf ein Generationsschiff, das sich in der Nähe des Ziels befindet. An Bord des mit Menschen unterschiedlichster afrikanisch-arabischer Stämme besetzten Schiffes tut auch eine Ingenieurin Dienst: eine Frau, die eine innige Beziehung zu dem Raumschiff hat und andere Ziele verfolgt als ihre Bordkameraden.

Was wäre, wenn man einen Verstorbenen mittels Back-up in der Cloud und einer Hülle wieder zum Leben erwecken kann? Dieser Frage widmet sich Michael Teasdale in „Frank Peterson kommt nach Hause“. Dumm, dass der neue Frank unbedingt erfahren will, was dem alten Ich zugestoßen ist - und dann darauf stößt, dass er wahrlich kein guter Mensch war.

Frank Wards „In den Tagen danach“ zeigt uns eine zukünftige Welt, in der etwas Besonders passiert ist. Was und wie wissen die Menschen immer noch nicht, nur, dass eine geringe Anzahl der Menschen dank des Ereignisses nicht mehr altern. Ewiges Leben ist doch etwas Schönes, etwas, das jeder will - nur, dass nicht nur Erwachsene vom Ereignis „beglückt“ wurden.

Jon ist ein Künstler, ein Perfektionist. Als er daran geht, einen künstlichen Menschen zu erschaffen, strebt er Vollkommenheit an. In Everdeen Masons „Scarlett“ entwickelt er sein Wesen immer weiter, bis dieses sich selbst verbessern kann - und dann doch ganz andere ästhetische Ziele anstrebt als sein Schöpfer.

In Kel Colemans „In der Angelegenheit Home sapiens“ ist die Menschheit ausgestorben. Die Sentimachs überlegen, ob man den Homo sapiens wirklich mittels Klon-Technologie wieder auferstehen lassen soll…

Jana Bianchis „Dein kleines Licht“ entführt uns auf ein havariertes Raumschiff. Zwei Überlebende gab es: eine menschliche Frau und eine Seisbiontin - beide schwanger und kurz vor der Niederkunft…

Naomi Kritzera „Das Jahr ohne Sonnenschein“ berichtet uns von einer Welt in der nahen Zukunft, in der Aschepartikel das Sonnenlicht aussperren. Die Regierung – vorliegend in den USA - sorgt für das Nötigste zum Überleben. Apotheken werden beliefert, Strom gibt es ab und an und Konserven zu kaufen. Benzin und Gas aber sind Mangelware. Uns begegnet eine kleine Gruppe von Nachbarn, die dank der Initiative zweier Frauen tatkräftig versuchen, sich gegenseitig zu unterstützen. Mit dabei, eine ältere Dame, die auf ihren Kompressor angewiesen ist, um die Atemluft für sie ausreichend aufzubereiten. Die aus der Erzählung sprechende Empathie, der Wille aller, zum Gemeinwohl beizutragen, die Schwächeren zu stützen haben mich hier sehr angesprochen - auch und gerade, weil die Realität vermutlich eine andere wäre.


Sie sehen also, es erwarten die Leserin respektive den Leser Texte der unterhaltsamen aber auch der nachdenklichen Art. Beiträge, die uns aufwühlen, nachdenklich machen, ja zum Denken und sich Positionieren anregen - eben wirklich tolle Geschichten, die einen breiten Zuspruch verdient haben.