Julia A. Jorges: Glutsommer (Buch)

Julia A. Jorges
Glutsommer
Titelbild: Mario Heyer
Blitz, 2022. Taschenbuch, 440 Seiten, 12,95 EUR

Rezension von Elmar Huber

Sommer 2018: Über Wochen kein Tag unter 35 Grad; ganz Europa - Menschen, Tiere und Pflanzen - leidet unter der anhaltenden Hitze des Jahrhundertsommers, und die Membran zwischen der Menschenwelt und der Parallelwelt der „Kleinen“ wird immer dünner.

Buchstäblich vor den Augen seines Vaters Titus wird der vierjährige Keno Volkmer auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten von einer geheimnisvollen Frau im weißen Kleid entführt. Die Polizei findet nicht die geringsten Spuren, die Eltern sind verzweifelt, Kenos Schicksal ist ungewiss, da die vermeintliche Entführerin auch keine Forderungen stellt.

Stattdessen ist immer öfter die Rede von der „Mittagsfrau“, deren Erscheinen mit weiteren Unglücksfällen einhergeht. Es häufen sich die Berichte von „Mittagstoten“ aus allen Teilen des Landes. Kenos Mutter Larissa wendet sich in ihrer Verzweiflung an Benjamin Sieverding, einen selbst ernannten „Elfenbeauftragten“. Benjamin ist davon überzeugt, dass sich Menschen und Tiere die Welt mit anderen Wesen teilen, die nur empfindsame Seelen wahrnehmen können.


Mit „Glutsommer“ legt Julia Jorges einen phantastischen Roman vor, der Thriller und Fantasy auf ungewöhnliche Weise verbindet. Alles beginnt wie ein handelsüblicher Grusel-Krimi - ein kleiner Junge wird von einer unheimlichen Gestalt entführt -, spielt sich jedoch anders und sehr viel überraschender aus, als man es von einem Genre-Vertreter erwartet.

Der Roman nimmt den Leser in einem angenehm entspannten Erzähltempo mit, das zum einen Raum für die Charakter-Einführungen bietet, zum anderen die Hitze-Trägheit widerspiegelt, die über dem Geschehen liegt. Nach und nach werden mehrere Erzählstränge mit jeweils anderen Hauptpersonen eröffnet, die nahezu gleichwertig nebeneinanderstehen und sich im weiteren Verlauf an unterschiedlichen Stellen berühren.

Ebenso wird immer deutlicher, dass sich in „Glutsommer“ auch verschiedene Welten berühren. Diejenige, die wir Menschen als real und alleingültig wahrnehmen, und jene, die mit ihren Kobolden, Elfen, Wechselbälgern und der Mittagsfrau an die Sagen und Legenden keltischer und baltischer Länder angelehnt ist.

Julia Jorges verwebt diese Welten sehr lässig, baut Spannung auf, indem sie Einiges im Unklaren lässt, und jongliert gleichzeitig die unterschiedlichen Handlungsstränge und Charaktere so großartig, dass weder die Story auszubrechen droht noch das Tempo leidet. Der durchgehend präsente Mystery-Faktor und wohldosierte Überraschungsmomente sorgen für anhaltende Spannung.

„Glutsommer“ ist ein hitzeflirrender Mystery-Thriller, der sich am Ende überraschend Fantasy lastig ausspielt. Lebensechte Charaktere, großartig konstruiert, toller Lesefluss. Top!