Scotland Yard (Comic)

Scotland Yard
Text: Dobbs
Titelbild und Zeichnungen: Stéphane Perger
Übersetzung: Swantje Baumgart
(Scotland Yard 1: Au Coeur des Ténêbres + Scotland Yard 2: Poupées de Sang, 2012/2013)

Splitter, 2014, Hardcover, 96 Seiten, 19,80 EUR

Rezension von Elmar Huber

London, Dezember 1889: Der Schatten der Ripper-Morde liegt noch immer über der britischen Hauptstadt. Unter der Aufsicht von Inspektor Tobias Gregson von Scotland Yard sollen die beiden geisteskranken Mörder Renfield und Carfax aus dem Newgate-Gefängnis zu Forschungszwecken an den Psychiater Dr. Seward überstellt werden. Gemeinsam mit ihnen wird in derselben Kutsche der Fälscher Murdstone transportiert. Um diesen zu befreien, ordnet der Unterweltboss Sebastian Moran einen Überfall auf den Gefangenentransport an, der komplett aus dem Ruder läuft. Murdstone und ein Yard-Beamter werden getötet, Renfield und Carfax entkommen. 

Inspektor Lestrade macht den jungen Gregson für den Zwischenfall und damit für das Entkommen der beiden Irren verantwortlich. Vom ‚Schwarze Museum‘ im Keller von Scotland Yard aus soll er gemeinsam mit Dr. Seward und dessen Assistentin Faustine Clerval die entflohenen Gefangenen wieder aufspüren und dingfest machen. Gemeinsam mit dem Straßenjungen Wiggins, dessen Bruder ebenfalls bei dem Überfall getötet wurde, verfolgen sie die dürftigen Spuren, und Gregson ist gezwungen, ein Zweckbündnis mit dem kriminellen Moran einzugehen, um dieses Ziel zu erreichen. Gleichzeitig beginnt das Morden; im Hyde Park werden Frauen mit Hilfe einer klingenbewehrten mechanischen Halsmanschette geköpft. Das Werk des Sadisten Carfax. Allein verfolgt Faustine eine eigene Spur und gerät in die die Gewalt des Irren.

Nachdem Carfax tot ist, machen sich Gregson und Seward auf den Weg in das Haus, in dem Renfield bei seinen beiden Tanten aufgewachsen ist und wo nun eine ausgeblutete Leiche gefunden wurde, der ehemalige Hausarzt der Renfields. Der Mörder ist an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt, wo er selbst unter dem Einfluss seiner sadistischen Tanten zum Monster wurde. Doch er macht sich die Kenntnis der örtlichen Abwasserkanäle zunutze, sodass ihm immer wieder die Flucht vor seinen Verfolgern gelingt.


Mit „Scotland Yard“ reiht sich Olivier „Dobbs“ Dobremel in die Riege der Autoren ein, die auf Alan Moores („Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“) Spuren Prominente der viktorianischen Ära - literarische wie auch reale - in neue Abenteuer verstricken. Inzwischen ist das schon fast ein eigenes Genre.

Zuallererst bedient sich Dobbs beinah schon selbstverständlich bei den Figuren um Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Sein Held ist der aufrechte Inspektor Tobias Gregson, der bei Conan Doyle nach Lestrade eine eher untergeordnete Rolle im Londoner Polizeiapparat spielt. Auch hier ist Gregson Lestrades Untergebener, der nicht mehr als der begriffsstutzige Staatsdiener, sondern als hochnäsiger Kotzbrocken charakterisiert wird, welcher nur verächtlich auf seinen Mitarbeiter herabsieht. Die offene Feindschaft zwischen den beiden und Gregsons Wut entladen sich schließlich in einem altmodischen Faustkampf, in dem Lestrade den Kürzeren zieht. Weitere Figuren aus dem „Holmes“-Kanon sind der Straßenjunge Wiggins von den ‚Baker Street Irregulars‘ und Professor Moriartys rechte Hand Sebastian Moran.

Der Leser trifft außerdem auf Joseph „Der Elefantenmensch“ Merrick, dessen Arzt Dr. Frederick Treves, sowie Bram Stoker und die Mörder Carfax und Renfield. In einer kleinen Binnenhandlung ist Bram Stoker bei seinem Freund Commissioner Fix auf der Suche nach Anregungen für einen neuen Roman zu Besuch und wird so quasi zum Beobachter der Ereignisse, die er dann in seinem Roman „Dracula“ verwendet. Stoker verewigt die Figur Renfield in seinem Schauer-Roman als Draculas Erfüllungsgehilfe und benennt den Ort, wo der Vampir in England wohnt, „Carfax“. Die letzten Panels in „Scotland Yard“ zeigen dann auch die Uraufführung von „Dracula“ (mit Henry Irving in der Titelrolle), die es so in Wirklichkeit nie gab. Erwähnung finden außerdem Jack the Ripper und Frederick Abberline, Charles Dickens und Phileas Fogg. Die Grenzen zwischen Historie und Fiktion sind dabei für den Unbelesenen nicht auszumachen.

Die Story von „Scotland Yard“ ist im Grunde sehr einfach gehalten: Zwei gefährlichen Psychopathen gelingt die Flucht aus dem Polizeigewahrsam, und eine (hier unfreiwillige) Spezialtruppe muss sie wieder dingfest machen; ein Plot, der grob auf beinahe jede x-beliebige Folge „Criminal Minds“ passt.

Doch „Scotland Yard“ lebt vor allem von seinen organisch entwickelten Charakteren und der großartigen Figurendynamik, im Kleinen wie im Großen. Gregsons Motivation und sein Vorgehen sind absolut nachvollziehbar. Stets das Ziel im Auge geht er sogar einen Handel mit dem Verbrecher Moran ein, für den er spürbar mehr Sympathie empfindet als für seinen Vorgesetzten. Das macht Gregson innerhalb des Yard natürlich angreifbar, aber für den Leser auch hochgradig sympathisch.

Der Joker in der Geschichte ist Dr. Sewards schöne Assistentin Faustine Clerval, die durch ihre freiwillige soziale Arbeit in den Slums auch unter den wenig zimperlichen Gaunern der Gegend den Status einer Unberührbaren und den Beinamen „der Engel“ hat. Außerdem funkt es kräftig zwischen ihr und Gregson.

Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich die beiden teuflischen Wahnsinnigen Carfax und Renfield, die für ihre Morde beinahe „Saw“-ähnliche Methoden anwenden. Sie werden eine „neue Art Monster“ genannt, wie Jack the Ripper eines war. Dobbs schafft es sogar, zumindest Renfield zu einem Opfer (seiner beiden Tanten) zu machen; sein Wahnsinn resultiert aus seiner unerfreulichen Kindheit.

So wird auch der Leser sehr schnell gepackt und förmlich in die Geschichte eingesaugt. Zusätzlich macht natürlich die Meta-Ebene Spaß, nämlich zu entdecken, welche realen oder literarischen Persönlichkeiten Autor Dobbs in „Scotland Yard“ verwurstet hat.

Der Künstler Stéphane Perger packt dies alles in phantastisch-detaillierte Bilder mit Aquarell-Charakter. Mit ungewöhnlichen Perspektiven und ‚Nahaufnahmen‘ schafft er, wo nötig, eine düstere bedrohliche Atmosphäre. Zusätzlich spielt er mit der Anordnung seiner Bilder, legt Panels übereinander, auch mehrfach, und verziert die Bildränder bei den Rückblicken in Renfields Kindheit mit Spinnweben und Pilzgeflecht. Ganz großartig!

Die deutsche Veröffentlichung im Splitter Verlag erfolgt als „Splitter Double“, was bedeutet, dass die zwei Originalbände als ein Hardcover-Album veröffentlicht wurden. Dabei gingen leider die Titel der Einzelbände „Au Coer des Ténȇbres“ („Das Herz der Finsternis“) und „Poupées de Sang“ („Blut-Puppen“) über Bord.

Dicht, packend und düster präsentiert sich „Scotland Yard“ dabei mit großartig-plastischen Charakteren. Auch zeichnerisch auf höchstem Niveau.