Markus Lawo (Hrsg.): Abartige Geschichten - Baker Street (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Dienstag, 02. Februar 2021 13:23

Markus Lawo (Hrsg.)
Abartige Geschichten - Baker Street
Titelbild: Markus Lawo
Hammer Boox, 2020, eBook, 4,99 EUR (auch als Taschenbuch erhältlich)
Rezension von Elmar Huber
„„Etwas geht vor sich in der Stadt“, flüstert sie. „Es gärt geradezu, wird sich bald schon Bahn brechen. Der Rauch aus den Fabrikschloten liegt wie ein Schleier über der Wirklichkeit und macht die Menschen blind für das, was um sie herum passiert. Es ist furchtbar und wunderschön zugleich. Sie wissen genau, wovon ich rede, nicht wahr?“ (Sascha Dinse: „Post Mortem“)
Wolfgang Brunner: „Das ewige Leben des John Smith“
Ein laut geführter Disput aus dem Nebenzimmer in der Baker Street 221b weckt das Interesse des angehenden Schriftstellers Arthur Conan Doyle. Er beschließt, die Räume seines Nachbarn aufzusuchen, wo ihn John Smith und Sherlock Holmes bereits erwarten; nichts anderes war das Ziel ihres arrangierten Gesprächs. Dort wird Doyle überraschend Zeuge einer bizarren Operation, mit der John Smith gedenkt, sich von seiner Krankheit zu heilen und sein Leben zu verlängern.
Emely Meiou: „Vermisst“
Anna Cleaver ist in ihrer Ehe mit dem brutalen Trunkenbold Jonathan gefangen. Nur ihre Arbeit als Näherin und die gelegentlichen Stunden, die sie sich um das Nachbarsmädchen Matilda kümmert, bieten ihr einige Glücksmomente. Doch jetzt ist Matilda seit einigen Tagen spurlos verschwunden, und ein unfreundlicher Privatdetektiv lässt Anna keine Ruhe mehr.
Jutta Wölk: „Todsünden“
Ein selbsternannter Moralwächter lässt sich von der Figur des Killers aus dem Film „Sieben“ inspirieren und geht in London auf einen Feldzug gegen die sieben Todsünden.
Ralf Kor: „221 A“
Jahre nachdem Jack the Ripper von der Bildfläche verschwunden ist, treibt sich erneut ein Killer in den Straßen von Whitechapel herum. Jemand, der ebenso neugierig auf die Körper seiner Opfer ist. Und ausgerechnet in der Nachbarwohnung von Sherlock Holmes geht Merkwürdiges vor sich.
Marvin Buchecker: „Sherlock Holmes und der verrückte Araber“
Morgan Pikes, Kurator des Natural History Museum, spricht im Zustand höchster Erregung bei Sherlock Holmes und Dr. Watson in der Baker Street vor. Einige merkwürdige Ereignisse könnten die geplante Öffnung des Museums verhindern. Auf unerklärliche Weise ist ein Buch aus den Ausstellungsräumen verschwunden, das angeblich magische Kräfte hat.
Moe Teratos: „Das Restaurant an der Baker Street“
Dank der stetig steigenden Bevölkerung und der Lebensmittelverknappung ist es im Jahr 2099 legal, Menschenfleisch zu essen. Um für genügend Nachschub auf den Tellern zu sorgen, wurde schon für leichte Vergehen die Todesstrafe eingeführt. Trotzdem ist die Versorgung knapp, und es hat sich ein illegaler Schwarzmarkt um das kostbare Gut entwickelt.
Markus Kastenholz: „Darkham: Black“
Gerade ist Totengott Anubis dabei, Bastet über den Dächern von Darkham den Rest zu geben, da erhält die Katzengöttin unerwartete Hilfe. Der legendäre Darkman, ein maskierter Vigilant, ermöglicht ihr die Flucht. In seinem Versteck, Baker Manor, enthüllt er ihr seine wahre Identität und seinen Plan, Anubis endgültig zu vernichten.
Jean Rises: „Dragfoot“
Ein Besuch des Chillingham Castle ist der neueste Streich der Lost-Places-YouTuber „Lost Boys of Baker Street“ Jeffrey Holmes und Stephen Watson. Neben einigen anderen soll hier auch der Geist des Folterknechts John Sage, genannt „Dragfoot“, umgehen.
Doris E. M. Bulenda: „Ein Detektiv tut…“
Die kleinen Flittchen, die ständig in der Wohnung ihres Mieters Sherlock Holmes ein- und ausgehen - angeblich brauchen die ‚Damen‘ die Hilfe des Detektivs - sind Mrs. Hudson schon lange ein Dorn im Auge. Die Eifersucht treibt sie in die dunklen Gassen Londons, wo sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt.
Sascha Dinse: „Post Mortem“
Der Stadtteil Whitechapel wird von einer grausamen Mordserie heimgesucht. Die toten Frauen scheinen von einer unbekannten Krankheit befallen zu sein. Doch auch im Leichenschauhaus von Dr. Malcolm Clarke gehen merkwürdige Dinge vor sich.
Thomas Tippner: „Nur nicht Sherlock Holmes“
Henry Potter leidet unter den Eskapaden seiner Ehefrau. Mit Familie, Nachbarn und Händlern liegt die streitsüchtige Wilma im Zwist und macht damit ihrem friedliebenden Mann das Leben unerträglich. Nach einem Gespräch mit seinem Nachbarn John Watson reift in Henry ein perfider Plan.
Raven Roxx: „Blood-Ripper“
Nachdem die atomaren Explosionen des Dritten Weltkriegs die Erde aufgerissen haben, ist New London von einer Menge fremdartiger Kreaturen bevölkert: Vampire, Elfen, Oger, Werwölfe und so weiter. Als Polizisten ermitteln der Halb-Elf Setrakian Holmes und der Oger Granak Taz im Fall von mehreren verschwundenen Personen. Eine Spur führt die beiden Außenseiter in höchste politische Kreise.
Jacqueline Pawlowski: „Die Last“
Die einstmals schöne Eleonore Summers ist heute nur noch ein unförmiger Berg aus Fett. Von ihrem Sohn James lässt sie sich nicht nur ständig neues Essen herbeischaffen, auch neue Kleider soll ihr der gelernte Schneider nähen. Und neue Haare benötigt sie auch.
Nici Hope: „Ebene Null“
Liz ist neugierig und bucht eines der Baker-Street-VR-Erlebnisse. In der Künstlichen Realität kann man Sherlock Holmes, Doktor Watson oder die Queen treffen oder sich als Prostituierte von Jack the Ripper umbringen lassen.
Timo Koch: „Im Bann der grünen Fee“
Geschäftliche Rückschläge und die damit verbundene nervliche Belastung treiben Robert Blythe regelmäßig ins Absinth-Haus von Mr. Chang. Wie er von dort nach Hause kommt, weiß er nicht mehr. Meist müssen der Diener Boroughs und das neue Hausmädchen Pendant ihren mit Blut besudelten Hausherren auflesen und in sein Bett tragen, wo er seinen Rausch und seine Albträume ausschlafen kann.
Nicole Renner: „Jason, Jacks Erbe“
Im Jahr 2188, nach dem Dritten Weltkrieg, leben in London Arm und Reich strikt getrennt. Durch Zufall stößt Jason, der mit unzähligen anderen Menschen unter unwürdigen Umständen in der Gosse lebt und sich von Ratten ernähren muss, auf seine Verwandtschaft mit dem legendären Serienkiller Jack the Ripper. Er beschließt, sein Erbe anzutreten und damit auch das Versorgungsproblem zu lösen.
Markus Lawo: „I hold your Hand in mine”
Über ganz London verteilte Leichenteile halten Scotland Yard in Atem. Nun hat die Polizei einen Brief des Mörders bekommen. Darin schildert dieser, was er mit all den Mädchen getan hat und wo er jetzt zu finden ist.
Elli Wintersun: „Zwischenwelt“
Ein Meteoriten-Einschlag öffnet ein Portal, durch das Sherlock Holmes, John Watson und einige weitere Personen in eine bizarre Zwischenwelt gezogen werden. Dort müssen merkwürdige Kreaturen in Zweikämpfen gegeneinander antreten.
„Der Mann hielt inne und musterte die Person. Sie war weiblich, das konnte er an der schlanken Silhouette erkennen. Sie trat unter das kränkliche Licht einer Gaslaterne und stützte die Hände in die Hüften, stellte sich zur Schau. Jetzt erkannte er mehr. Sein Blick musterte sie. Ein Kleid in einem Purpurton. Schick, aber häufig getragen. Blasse Haut, rote Lippen. Dürr. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Den Gehstock umklammerte er wie einen Rettungsanker.“ (Ralf Kor: „221 A“)
Mit „Baker Street“ liegt die zweite Anthologie der „Abartige Geschichten“-Reihe von Herausgeber Markus Lawo vor. Schien das Thema des Vorgängers „Asylum“ doch deutlich besser geeignet, um abartige Geschichten zu erzählen, überrascht „Baker Street“ mehr als einmal, wenn es darum geht, den berühmten Wohnsitz des Meisterdetektivs Sherlock Holmes mit phantastischem Leben zu füllen. Auch wenn es nicht immer zimperlich zugeht, wirkt „Baker Street“ zurückhaltender, was den Blutgehalt betrifft, und erstaunlich abwechslungsreich, was die Ideen angeht.
Obschon das keine Vorgabe war, ließ sich der überwiegende Teil der Autorinnen und Autoren von der offensichtlichen Assoziation zu Sherlock Holmes leiten. Interessant wird das Ganze dadurch, dass Holmes und Watson meist nur Nebenrollen in den betreffenden Erzählungen spielen, sodass sich daraus sehr unterhaltsame und reizvolle Konzepte ergeben, nicht zuletzt, wenn diese berühmten Figuren amüsant gegen den Strich gebürstet werden.
Verlagschef Markus Kastenholz steuert beispielsweise ein weiteres Kapitel seines „Darkham“-Zyklus bei, das diesmal ein famoses Elseworlds-DC/Marvel-Crossover mit Sherlock Holmes und im Stil der „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ geworden ist. Die Pointe erschließt sich allerdings nur dem, der in den Marvel-Comics wirklich ‚zu Hause‘ ist.
Der zweite ‚Wiederholungstäter‘ dieser Geschichtensammlung ist Jack the Ripper; zu den ohnehin mannigfachen Theorien über die Identität und das Motiv des berühmten Dirnenmörders werden hier noch einige neue hinzugefügt. Doris E. M. Bulenda schildert sogar ein Zusammentreffen von Jack und Holmes in einer Version, die garantiert noch niemand auf dem Schirm hatte.
Dazwischen lockern die Erzählungen ohne Sherlock-Holmes- oder Jack-the-Ripper-Bezug die Sammlung auf angenehme Weise auf. Unglücklicherweise muss man feststellen, dass das Qualitätslevel zum Ende hin nochmal deutlich verbreitert wird. Ausgerechnet der Abschlussbeitrag wirkt doch reichlich dürftig und lieblos heruntergeschrieben.
Als Bonbon konnte Markus Lawo noch die Rechte für einen „Soundtrack zum Buch“ der Instrumental-Band Erdenstern (bekannt unter anderem für ihre Begleitmusik zu Rollenspielen) ergattern; jeder Story ist ein QR-Code/Link vornagestellt, über den ein Track der Band abgerufen werden kann.
„Abartige Geschichten - Gamma“ ist bereits in Arbeit.
Insgesamt ist dies eine sehr gelungene und überraschend abwechslungsreiche Anthologie mit einigen alten Londoner Bekannten.